Kieselbart, wie sich herausstellt, ist ein Zwerg.
Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Welche normale Mutter würde ihr Kind schon „Kieselbart“ taufen? Außerdem erklärt das auch, wieso er das arme Kristallauge piesackt. Zwerge sind so!
Ich finde Gullys „Freund“ am flachen, kiesigen Ufer eines breiten und trägen Baches, der sich durch eine Landschaft kleiner, moosbewachsener Hügel schlängelt. Unzählige verflochtene, überirdische Wurzeln von großen Erlen und die Bauten kleiner Tiere bilden eine perfekte Stadt für kleine Menschenwesen.
Also beispielsweise Zwerge, obwohl ich auch Gnome, Wichtel und Heinzelmännchen riechen kann.
Nicht allzu weit entfernt bricht der Boden plötzlich ab und der Bach rauscht über eine Klippe. Mir offenbart sich der Blick auf tiefliegende, sehr klein erscheinende Baumwipfel – offenbar bin ich weiter oben, als ich gedacht hatte. Irgendwo auf einem Berghang.
Kieselbart ist ein kleines, dickes Männlein mit roter Mütze, grünem Hemd, braunem Gürtel und dunkelbrauner Hose, sowie schwarzen Schuhen. Er sitzt auf einem größeren Steinchen und wirft eine Angel ins Wasser. Von der Größe kommt er vielleicht an ein Kaninchen heran – aber ein wildes Kaninchen, nicht diese Riesendinger, die Menschen manchmal züchten. (Schmatz!)
„Kieselbart?“, frage ich freundlich.
Er dreht sich um, erblickt mich, schreit auf und lässt die Angel ins Wasser fallen. Der Fluss reißt sie mit sich.
„Weg mit dir, du ...“ Zitternd richtet er einen tannennadelgroßen Dolch auf mich, den er in beiden Händen hält. „Du Wolf!“
„Ich möchte mit dir reden“, sage ich und lege mich ins Gras, damit er sich entspannt.
Tatsächlich lässt Kieselbart den Dolch sinken. „Ach so?“
„Gully schickt mich.“ Gleich ist der Dolch wieder oben. „Ich will nur seine Augen abholen.“
„Die hab‘ ich verkauft!“, schreit Kieselbart mit schriller Stimme. „Jetzt schickt mir der Tölpel auch noch Wölfe auf den Hals! Verschwinde, Bestie!“
„An wen hast du sie verkauft?“ Ich bin aufgesprungen. Jetzt tauchen aber auch aus allen möglichen Löchern kleine Wesen auf, die Kieselbarts Geschrei gehört haben. Mit wachsender Panik registriere ich kampflustig geschwungene Ästchen und unzählige winzige, wütende Blicke. Eine Gruppe Heinzelmännchen schleppt sogar eine Tube Klarspüler aus irgendeinem Versteck und macht sich offenbar bereit, von oben auf die Tube zu springen, um die Flüssigkeit im Inneren als Geschoss zu verwenden.
„Kieselbart?“ Ich lege all meinen Mut in meine Stimme (was nicht besonders viel ist) und knurre.
„An den Stinthengst!“, stößt der Zwerg aus. Er zittert inzwischen so stark, dass ich befürchten muss, dass er von dem Stein fallen wird.
Ich suche lieber schleunigst das Weite, denn inzwischen hat sich eine regelrechte Armee aus Moosmännern, Fenggen und Querxen gebildet, die mich mit allerhand Teilen der ansässigen Flora bedroht.
Egal, ich weiß, was ich wissen muss. Moment – wer oder was ist der Stinthengst?!
Ich laufe zurück und brülle aus sicherer Entfernung: „Wo finde ich den Stinthengst?“
„Geh den Fluss hoch“, vernehme ich Kieselbart, gefolgt von einem lauten „Attacke!“
Unzählige stachelige Kastanien prasseln auf mich nieder. Die sicherere Entfernung war offenbar doch nicht so sicher.
*
Nachdem ich mir die Geschosse aus dem Fell gezupft habe, trotte ich den Fluss entlang nach oben und halte aufmerksam Ausschau.
„Stinthengst?“, rufe ich versuchsweise. Ob darauf jemand reagiert? „Stinthengst?“
„Der Stint ist in Mikołajki“, ertönt plötzlich eine Stimme vor mir. Ich zucke zusammen, denn beinahe wäre ich auf den Sprecher getreten – einen ziemlich unspektakulären, kleinen Fisch. Ich starre ihn an.
„Kann ich dir weiterhelfen?“, fragt er nach einer Weile gereizt.
„Äh, ja. Ich suche die Augen von Gully.“
„Was?“
„Es müssten zwei Bergkristalle sein. Kieselbart sagte, er hätte sie dem Stinthengst verkauft.“
„Und du willst sie haben?“ Der Fisch blubbert brüskiert. „Sie sind ein Geschenk für unseren König!“
„Aber Kieselbart hat sie gestohlen und Gully kann ohne sie nicht sehen“, argumentiere ich.
Der Fisch glotzt mich an. Hätte er Lider, würde er aber vermutlich die Augen verengen. „Du musst mir schon etwas Gleichwertiges bringen, wenn ich sie dir geben soll!“
Ich unterdrücke ein Stöhnen. Hört diese Lauferei denn gar nicht auf?
„Natürlich. Zwei schöne Steine?“
„Was du auch findest“, blubbert der Fisch. Seltsamerweise riecht er nach frischen Gurken.
Damit taucht er unter.
*
Ich gebe mich geschlagen und trotte einfach weiter den Bach hinauf. Wo finde ich denn ein paar Steine, die sich als Geschenk für einen Fischkönig eignen?
Und was will ein Fisch eigentlich mit Bergkristallen?
Während ich über royale Pisces und die Verwendungszwecke von Halbedelsteinen philosophiere, merke ich zu spät, dass etwas auf mich zu gerannt kommt.
„Zeter! Mordio!“, brüllt ein kleines, moosgrünes Wesen, das mit einem Stöckchen fuchtelnd den Fluss hinab rennt. Ein großer, brauner Filzhut fällt ihm über die Augen. (Ich sollte erwähnen, ‚groß‘ ist hier relativ. Der Hut ist vielleicht drei Fuß hoch, wie die Menschen sagen würden (für Maßeinheiten sind sie ganz nützlich, diese Menschen), aber das ist auch die Körpergröße des Männchens, also ist der Hut wohl riesig zu nennen.)
(Wo war ich? Ach ja.) Das Männchen kann mich wegen des Huts nicht sehen, läuft gegen mein Vorderbein und setzt sich auf den Hosenboden. Es schiebt die Hutkrempe hoch und blinzelt mich an. „Feuer? Todschlag?“
Ich lege den Kopf schief und betrachte den Mann von allen Seiten. „Bist du ein Moosmännchen?“
„Was? Welche Kännchen sind los?“
Ich verstehe. Ein schwerhöriges Moosmännchen.
„Es gab einen Angriff auf die Siedlung!“, erklärt er mir. „Ein böser Wolf greift sie an, ich muss ihnen helfen!“
Besagter böser Wolf legt nervös die Ohren an. „Ich glaube, das hat sich erledigt.“
„Wer wurde beerdigt?!“ Er springt auf und läuft erneut gegen mein Bein. Sein Kopf schlägt gegen die gleiche Stelle.
„Du hältst mich gefangen, Unhold?“ Der Moosmann schlägt mit dem Schwert gegen mein Bein, das ich erschrocken nach hinten setze. Er rennt los und stößt ein drittes Mal mit meinem Vorderbein zusammen. Dabei trifft er die ganze Zeit die gleiche Stelle. Auf Dauer tut das echt weh!
Ernüchtert sitzt der schwerhörige Moosmann im Wasser und rümpft die Nase. „Also gut, du hast mich gefangen! Du kriegst deine drei Wünsche.“
„Ich hab‘ dich gar nicht gefangen. Du bist frei.“
„Ein Schlangenei? Was bei den zwölf Unternächten willst du damit?“ Der Moosmann wedelt mit dem Schwert und vor meine Füße rollt ein kleines, rundes, weißes Etwas.
„Ich ...“ Ich kann mich noch rechtzeitig stoppen. Denn, so überlege ich mir, ein Zauberwesen, das mir drei Wünsche erfüllt, kommt mir gerade recht. Aber ob das klappt?
„Entschuldige, das will ich nicht“, sage ich und stoße das Ei mit der Pfote an.
„Soll ich den Wunsch etwa zurücknehmen?“
„Ja, bitte! Zauber‘ es einfach zurück!“
Der Moosmann schüttelt genervt den Kopf. „Das geht doch nicht! Weißt du was, ich hexe es auf den nächsten Bauernhof, was soll schon passieren?“ (Eine ganze Menge, wie sich noch bald genug herausstellen wird, das Schlangenei landet nämlich im Hühnerstall eines braven Bauern … aber dazu später mehr.)
Das Ei verschwindet also wieder. „Nun, deine drei Wünsche!“, verlangt der Moosmann.
„Ich brauche ein Geschenk für einen König.“
„Häh?“ Das Männchen hält eine Hand hinter sein Ohr.
„Ein Geschenk für einen König!“, brülle ich.
„Ein Gehäng‘ fadenscheinig?“, wiederholt er und wirbelt mit dem Stückchen.
„Nein!“, rufe ich entsetzt. Im Fluss manifestiert sich eine kostbare Kette aus Rubinen und – fadenscheinigem – schwarzem Samt. „Nein, doch nicht so was! Nimm das zurück!“
„Jetzt reicht‘s aber!“, schnaubt der Moosmann. „Mehr als einen Wunsch nehme ich nicht zurück. Du solltest dir eben genau überlegen, was du dir wünscht!“
(Hab ich das nicht schon mal irgendwo gehört? Kann nicht allzu lange her sein …) „Ein Geschenk für einen König. Würdest du mich bitte verstehen?“
„Du willst der Menschen Sprache verstehen?“ Der Moosmann wirbelt sein Schwert durch die Luft, springt hoch und tippt gegen meine Stirn. „Bitte sehr!“
„Neiiin! Argh!“ Ich spüre ein leichtes Kribbeln an der Stirn. „Das klang noch nicht mal wie das, was ich gesagt hab!“
„Letzter Wunsch. Los, ich hab‘ nicht den ganzen Tag Zeit. Meine Stadt braucht mich!“
„EIN GESCHENK FÜR EINEN KÖNIG!“, brülle ich aus vollen Lungen.
„Musst nicht so schreien, Jungchen“, knurrt der Moosmann gereizt. „Die Jugend von heute, so unhöflich! Dafür darfst du dir deinen dritten Wunsch selbst erfüllen! Du findest das Königsgeschenk in einer Höhle drei Flussbiegungen weiter oben.“
Grimmig erhebt er sich und stapft davon. Nicht, ohne mir noch mal vor’s Bein zu laufen. Ich trete ihm aus dem Weg und schaue ihm nach, wie er durch das für ihn kniehohe Wasser platscht.
Weil man nie weiß, wozu man es mal braucht, hebe ich die Kette auf. Dann seufze ich. Na toll, so ein Pech habe aber auch nur ich. Da treffe ich schon zwei wünscheerfüllende Wesen an einem Tag, und dann das! Immerhin weiß ich jetzt, wohin ich gehen muss. Und im Notfall kann ich dem Stint ja immer noch die Kette andrehen, da sind ganz hübsche Rubine drin.