„Was ist das?“, fragt Gully mit einem wütenden Unterton.
Ich horche auf. Bisher lief wirklich alles wie erwartet. Gully lag noch an derselben Stelle, obwohl ich ihn wieder zu spät gesehen habe, sodass ich auf ihn gelaufen bin. Nach der anfänglichen Verwirrung hat er mich erkannt, geknuddelt und dann die Steine in Empfang genommen.
„Die Bergkristalle, die du wolltest“, entgegne ich perplex.
Gully jault. „Ich dachte, du wärst mein Freund!“
„Aber ich bin ...“
„Du bist genau wie Kieselbart, du bist gemein und fies!“
„Was ist denn ...?“
„Er hat dich bestimmt geschickt und jetzt macht ihr euch beide über mich lustig! Ihr seid wirklich so gemein!“
„Aber ...!“
Gully brüllt laut auf und ich presse mich entsetzt an den Boden. Doch der Halbtroll schlägt lediglich die Hände vor sein Gesicht und stürmt heulend von dannen.
„Gully!“, rufe ich ihm verloren nach. „Sag mir doch, was los ist!“
Ich laufe ihm nach. Er ist verdammt schnell, aber er hinterlässt eine gut sichtbare Spur niedergetrampelter Bäume. Als ich allerdings auf eine Kreuzung mehrerer solcher Pfade komme, muss ich die Verfolgung frustriert abbrechen. Trolle haben leider gar keinen Eigengeruch, dem ich folgen könnte. Gully ist also für mich unerreichbar.
Um mich nicht noch stärker zu verirren, kehre ich auf direktem Weg zu der Stelle zurück, wo er mich verlassen hatte. Die Bergkristalle liegen im weichen Moos. Ich beschaue sie mir genauer und stellte fest, dass sie zwei unterschiedliche Größen haben und noch dazu ungeschliffen sind – Gullys Glasaugen waren rund und ohne spitze Kanten.
„Oh je …“ Ich erkenne den Fehler zu spät.
Das sind nicht Gullys Augen. Mein Freund denkt jetzt, ich wäre ein Monster. Damit kann ich wohl auch nicht mehr auf seine Hilfe zählen.
Was soll ich jetzt nur machen? Ratlos vollziehe ich meinen Weg zurück und komme schließlich wieder bei der Höhle an.
Die Menschen sind immer noch da. Seltsam … sie haben ihr Zeug in der Zwischenzeit fortgeschafft, aber sie versammeln sich immer noch um die Steine vor dem Eingang.
Sie rufen irgendwas. Einer steht etwas abseits und redet drängend mit sich selbst, während er irgendeinen kleinen Apparat mit der Hand an sein Ohr hält.
„Ja, einen Rettungswagen. Oder einen Hubschrauber, meinetwegen! Es sind Leute in einer Höhle eingeschlossen, gottverdammt, jetzt beeilen Sie sich mal!“
Ich fahre entsetzt zusammen. Seit wann kann ich Menschen verstehen?
Ach, genau, der Moosmann hat mir die Fähigkeit verliehen, die Menschensprache zu verstehen. Ich starre den Homo Sapiens neugierig an. Erstaunlich – sie haben doch wirklich so etwas wie eine Grammatik, obwohl ihre Sprache vorwiegend aus Schimpfworten zu bestehen scheint. Das glaubt mir keiner!
Der Mensch beendet sein Selbstgespräch und senkt auch den Apparat. Er stapft zu den anderen zurück. „Habt ihr was geschafft?“
„Eine Lücke“, antwortet einer. „Wir kriegen die Wasserflaschen durch. Wann kommen die Bergretter?“
Der andere Mensch schnaubt. „‚Bald‘, sagt er.“
„Komm runter, Jens, wir sind halt auch am Arsch der Welt.“
Ich verdrehe die Ohren. Vielleicht ist die Menschensprache doch nur kauderwelsch, ich verstehe jedenfalls nicht, wovon dieser Jens herunterkommen soll – er steht ja schon auf dem Boden. Und der Allerwerteste der Welt liegt auch ganz woanders.
Ich konzentriere mich wieder. Das belauschte Gespräch hat mir eine wichtige Information verschafft: Offenbar sind Menschen in der Höhle eingeschlossen.
Was für ein Unglück! Ich muss sie irgendwie loswerden. Selbst wenn Gully mir hätte helfen wollen, hätte er es nicht gekonnt: Menschen sollten besser keine Fabelwesen sehen, das hält ihre fragile Psyche nicht aus. Sie fallen dann einfach um. Nach den ersten Versuchen haben sich die Fantasiewesen also geschworen, Menschen in Zukunft besser aus dem Weg zu gehen.
„Was ist denn hier passiert?“, fragt jemand verwundert.
Ich springe vor Schreck eine Wolfslänge in die Luft. Wie aus dem Boden gewachsen steht ein Mensch neben mir, ein gebeugter, alter Mann mit einer komischen Lampe, die er sich um den Kopf geschnallt hat. Er trägt eine dunkelbraune Mönchskutte.
„Die armen Menschen!“ Traurig schüttelt das Wesen den Kopf. „Ich konnte ihre Schreie bis in meine Höhle hören.“
Damit zieht er an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten.
Ich starre ihm hinterher, während sich mein Herz nur langsam beruhigen will. Dabei fällt mir auf, dass seine Gestalt an den Rändern ein wenig durchschimmert.
Er ist kein Mensch, sondern ein Fabelwesen! Ein Berggeist – ich würde auf einen Bergmönch schließen. Wieder schlägt mein Herz schneller, diesmal vor Freude. Bergmönche haben es sich zur Aufgabe gemacht, Verschüttete zu retten.
Ich laufe ihm nach, während er gemütlich zur Höhle schlurft – oder gleitet, denn man sieht nicht, dass sich seine Beine unter der braunen Kutte bewegen würden.
Er schwebt mitten zwischen den Menschen hindurch, die ihn nicht zu sehen scheinen. Allerding erschauern sie und nehmen – vielleicht ohne es wirklich zu merken – Abstand zur Höhle ein. Das ist auch so eine Menscheneigenart. Manche Fabelwesen ignorieren sie einfach. Solange ich nahe beim Mönch bleibe, bin ich auch sicher.
Ich wedele leicht mit dem Schwanz, während ich zusehe, wie der Bergmönch über die Steine vor dem Eingang streicht. Es rumpelt, und dann gerät der ganze Steinhaufen plötzlich einer Lawine gleich in Bewegung und wälzt sich knapp an mir vorbei den Abhang hinunter.
Die Höhle ist offen!
Einige staubverschmierte Menschen schleppen sich wild gestikulieren aus der Höhle. Die anderen, die ihnen entgegen kommen wollen, werden gepackt und müssen sich erneut in die Brennnesseln werfen.
Der Bergmönch fährt zurück, als ein lautes Brüllen ertönt.
Schwere Schritte folgen, und dann quetscht sich ein gigantisches, grünes Wesen aus der Höhle. Es bleib stehen, bläht witternd die großen Nüstern und schüttelt sich kleine Bernsteinstücke von der Haut.
Ich presse mich an den Boden. Das … das ist das Riesenvieh, das ich im Stein eingeschlossen gesehen habe! Jetzt wirkt das Wesen um ein Vielfaches lebendiger. Mit schwerfälligen Schritten entfernt er sich ein Stück von der Höhle und schnuppert wieder neugierig.
„Ist das ein verdammter T-Rex?!“, höre ich einen Menschen mit hysterischer Stimme rufen.
Das Wesen wirbelt herum. Es hat den Menschen ebenfalls gehört. Während der Tiirex das Maul zu einem ohrenbetäubenden Brüllen aufreißt, springen die Menschen auf und laufen wie die Moorhühner den Hang herunter.
Der Tiirex zögert nicht, und folgt ihnen auf den Fuß. Seine schweren Schritte verklingen zum Glück bald weiter unten.
Es bleiben nur der Bergmönch und ich zurück. Der Geist sieht mich an. „Das war … ungewöhnlich.“
„Tja, das Erdbeben muss ihn geweckt haben.“ Ich kratze mich hinterm Ohr.
„Erdbeben? In dieser Gegend?“
„Das hat diese pinke Fee ausgelöst“, erkläre ich ihm. „Weil ich mir doch gewünscht habe ...“
Ich breche ab, weil der Mönch plötzlich die Augen verengt. Nervös erhebe ich mich wieder auf die Pfoten.
„Weil du was?“ Der Bergmönch kommt näher. „Was hast du getan?“
Ich weiche zurück. „Ähh … nichts! Ich ... ähh ... Was ist das denn?! Hinter dir!“
Ich starre nach oben. Über den Baumwipfeln kann man einen Berggipfel erkennen – oder konnte es. Denn der wackelt plötzlich und kippt dann zur Seite weg.
Der Bergmönch wirbelt herum. „Was?! Nein, mein Beeeeerg!“
Mit einem ‚Wuuuusch!‘ saust er den Berg hinauf.
Ich atme erleichtert auf. Vor der Höhle ist jetzt alles verlassen. Der Weg zur Tausendfarbengrotte ist offen!
Jetzt muss ich nur noch Capracandor und Ly Bescheid geben.
*
Am Abend dieses Tages stehen der Wolpertinger, was immer Ly auch ist und ich vor der Höhle. Lyssa schwebt über meiner Schulter und beäugt Ly kritisch. Sie hat wohl Angst, dass das Lichterwesen ihr zu ähnlich wird.
Capracandor atmet tief ein. „Ahh! Den Duft habe ich vermisst!“
Ich folge meinen beiden Freunden in die Tausendfarbengrotte und beobachte, wie sie die schimmernden Wände bewundern und andächtig über die Felsen streichen.
Langsam dauert mir das aber zu lange – vor allem, weil ich inzwischen wirklich mächtigen Hunger haben.
„Leute … das Portal?“, rufe ich ihnen in Erinnerung.
„Oh, das. Also …“ Capracandor sieht zu Ly.
„Das war gelogen“, offenbart das seltsame Leuchten.
„Was?!“ Ich falle aus allen Wolken.
„Hör mal, wir wussten nicht, wie wir dich sonst zum Helfen bewegen könnten“, entschuldigt sich Capracandor. „Die Höhle kann leider nur Illusionen erschaffen, keine Tore öffnen. Aber du bist doch ein Dämmerweltwolf! Du kannst, wann immer du willst, durch die Schimmerwelt reisen!“
„Ja, aber ich weiß doch nicht, wo ich da lande!“, knurre ich gereizt. Also, ehrlich jetzt! Haben die beiden eine Ahnung, was ich alles auf mich genommen habe?! – Moment, das haben sie wirklich nicht. Und sie sollten es auch nicht erfahren.
Capracandor sieht nervös auf seine Pfoten. Ly schwebt derweil über den Kisten, die die Menschen zurückgelassen haben. „He, hier ist was Essbares!“, ruft sie uns zu. „Komm, Marvin. Essen wir erst einmal was, mit vollem Magen sieht die Welt gleich besser aus.“
„Schön.“ Ich willige mit einem leisen Knurren ein, eigentlich nur, weil ich wirklich großen Hunger habe.
Wir werfen eine Kiste um, der Deckel springt auf und heraus fallen mehrere Menschenfutterdinger in Papierbeuteln. Sie bestehen zu großen Teilen aus Weizenbrot und Käse, aber Fleisch ist auch dazwischen. Ich teile brüderlich mit Capracandor (er das Brot, ich die Wurst), Ly isst nichts. Stelle ich mir auch schwierig vor, so ohne Mund.
„Was bist du eigentlich?“, frage ich sie. Ob sie auch eine Muse ist? Aber warum kann ich sie dann sehen - Lyssa existiert zum Beispiel nur für mich.
Pikiert flackert sie auf. „Ich dachte, du bist ein Freund der Wikiothek und kennst dich deshalb mit der Welt aus.“
„Dann müsste ich ja nicht mehr zur Wikiothek.“
„Stimmt auch wieder.“ Sie scheint besänftigt zu sein. „Ich bin eine Winselmutter.“
„Ein Geist, richtig?“
Sie nimmt zu meinem großen Erstaunen die Form einer in Weiß gekleideten Menschenfrau an. Und nickt.
Das Leuchten, das von ihr ausgeht, ist stärker geworden und malt seltsame Formen in den Regenbogennebel. Ich reiße Maul und Augen auf.
„Dann wollen wir doch einmal sehen, ob ich dir nicht doch noch irgendwie helfen kann“, meint Ly mit fröhlichem Tonfall.