Mein neuer Bekannter sitzt mit gegenüber, eine große Schale in den Pranken. Vor meinen Pfoten steht ein ebensolches Behältnis mit heißem Tee, groß genug, dass ich meinen kompletten Kopf reinstecken könnte. Ich nehme aber nur vorsichtige Schlucke mit der Zungenspitze.
„Hmm, ist das lecker!“
„Ist gut, Smallpaw?“
„Wirklich gut! Und mein Name ist übrigens Marvin. Wie heißt du?“
„Ich bin Yeti.“
„Yeti?“ Ich lege ein Ohr an. „Aber … kommst du nicht aus Tibet?“ Das würde allerdings auch seinen deutlichen Akzent erklären.
„Ist Urlaub. Ich wollen Ruhe von nervigen Touristen. Hier treffen nervige Wolf.“ Yeti lacht gutmütig. „Marvin – warum springen von Berg?“
„Oooch, weißt du … man soll ja immer neue Hobbys ausprobieren“, antworte ich ausweichend. „Hör mal, Yeti, du musst kein Russisch mit mir sprechen. Sprich einfach normal, ich verstehe alles.“
„Tatsächlich?“, fragt Yeti. „Ich habe hier noch niemanden getroffen, der Yeti verstanden hätte.“
„Ich hab eine Fee getroffen, die meine Wünsche falsch verstanden hatte, und seitdem verstehe ich alle Sprachen ohne Probleme“, erkläre ich. Nach meiner anfänglichen Panik habe ich begonnen, den zotteligen Schneemenschen echt zu mögen. Ich trinke noch ein paar Schlucke Tee – er muss aus Bergkräutern sein und schmeckt zwar herb, aber auch unglaublich beruhigend.
„Was hattest du dir denn eigentlich gewünscht – wenn das nicht zu privat ist?“
„Nein, keineswegs.“ Bereitwillig erzähle ich Yeti von dem Treffen mit der Fee, und dann von den Ereignissen, die dazu geführt haben – über den Stint und das Geschenk für einen König zu den Augen des Trolls bis ich schließlich beim Ursprung allen Übels angekommen bin: Clive Hanger und mein Auftrag, die Tränen des Mondkalbs zu erlangen.
„Ich war auch echt nah dran und hatte einen Auftraggeber mit guten Verbindungen zum Mann auf dem Mond, aber jetzt habe ich alles vermasselt. Wie Julius Cäsar schon sagte: Veni, vidi, violini – ich kam, sah und vergeigte.“
Yeti hebt eine Augenbraue. Erstaunlicherweise ist sein dunkles Gesicht als einziges vollkommen unbehaart und erinnert stark an das Gesicht eines Gorillas. Falls Gorillas die Zähne von Ebern hätten. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht Cäsar war, sondern jemand im Internet.“
„Heutzutage ist wirklich niemand sicher vor Plagiatsvorwürfen!“
„Aber sag mal … wenn du auf den Mond willst, da kann ich dir vielleicht helfen.“
Ich spitze die Ohren. „Für einen Preis, nehme ich an?“
Yeti starrt mich an, dann fällt ihm offenbar was ein. „Du könntest wenigstens meinen Rücken kratzen, da gibt es diese eine Stelle, an die man nie ran kommt …“
„Ich weiß genau, was du meinst!“, sage ich und springe auf. Yeti dreht sich mit dem Rücken zu mir und ich strecke mich, um die Stelle zu kratzen.
„Ahhh, genau da! Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass du nicht von selbst drauf gekommen bist! Es gibt nicht viele, die schon auf dem Mond waren, aber wenn dir jemand helfen kann …“
„Na klar!“, rufe ich aus. „Die Amerikaner! Natürlich. Ich bin so ein Idiot.“
„Was, die Menschen? Wie willst du die denn überzeugen, dich in ein Raumschiff zu setzen? Da hättest du ja mehr Erfolg bei den Russen. Nein, ich spreche natürlich von den Aliens, denen die Amerikaner ihre Ausrüstung für die Mondlandung gestohlen hatten.“
„W-was?“
„Ganz richtig, mein graubepelzter Freund – ich schleuse dich in Area 51 ein!“
Ich reiße die Augen auf. „Was? Ist das nicht gefährlich?“
Mein neuer Freund betrachtet lässig seine Fingerklauen. „Och, weißt du … ich bin in gewisser Weise VIP da.“
Ich sehe ihn bewundernd an. Die erste Berühmtheit, die ich treffe! Na ja … außer Dracula und so.
Yeti stemmt sich in die Höhe und klatscht in die Pranken. „Machen wir es so! Was sagst du?“
„Aye!“, stimme ich grinsend zu. Also wirklich – als ob ich mir die Chance entgehen lasse!
„Dann zeige ich dir jetzt die geheimen Pfade der Yetis!“, kündigt er an. „Nur wir kennen sie, nur wir können sie nutzen, um von den Menschen ungesehen durch die halbe Welt zu reisen – und noch ein Stückchen weiter.“
Er tritt zum hinteren Ende der Höhle und klopft in einem bestimmten Rhythmus gegen die Wand aus Eis. Es rumpelt. Der Boden bebt. Ich springe auf die Pfoten, spreize die Beine und senke den Kopf, um Halt zu finden.
Hinten schiebt sich die Wand knirschend in den Boden und offenbart den Eingang zu einem langen, runden, dunklen Tunnel, der in regelmäßigen (und zu großen!) Abständen von grünlichen Fackeln erhellt wird. Der Boden ist mit langen Holzbrettern ausgelegt, was dem Gang wenigstens einen Hauch Gemütlichkeit verleiht.
„Wooow!“, machte ich gebührend beeindruckt.
Yeti grinst vom einen Hauer zum anderen. „Das wollte ich hören. Komm, mein graubepelzter Freund. Ich glaube, du sagtest, dass du wenig Zeit hättest …“
„Oh, ja …“ Ich erinnere mich wieder an die Deadline. Wenigstens sieht es diesmal so aus, als hätte ich nicht bis zur allerletzten Minute prokrastiniert. Es ging ja auch irgendwie um meine Seele. Dafür bin ich schon verflixt spät dran!
Yeti tritt in den Gang und ich tapste leichtpfotig hinterher.
„Pass auf, dass du dir keine Splitter in die Pfoten haust“, warnt mein neuer Freund mich. „Das ist mir als Welpen immer passiert.“
Ich hebe eine Pfote vor die Zähne und ziehe die ersten fünf Splitter heraus. „Ich werde aufpassen.“
Yeti trampelt voraus, ich folgte ihm neben den Holzbrettern. Leise zwischen den Zähnen hindurch grummele ich darüber, dass Teppiche irgendwie weicher gewesen wären. Ich höre aber damit auf, als ich merke, dass die Wände meine Stimme lauter zurückhallen lassen und mein Geflüster zu einem halben Brüllen wird.
„Du solltest hier unten auch nicht zu laut werden“, erzählt Yeti. „Wenn man einmal kräftig brüllt, kippen schonmal 90% der Lebewesen an der Oberfläche vor Schreck um. Das hat mein Großvater vor ein paar Millionen Jahren mal gemacht … keine schöne Sache.“
Ich schlucke. „Echt?“
„Und ein paar Vulkanausbrüche hat es auch schon ausgelöst. Am besten, man ist hier nie lauter aus normale Gesprächslautstärke.“
Ärke … ke … ke, wiederholt das Echo.
Ich nickte. „Mhh-mh.“
Yeti lächelt beruhigend. „Keine Angst. Wir sind nicht lange unterwegs. Diese Gänge führen durch eine Dimensionskrümmung, bis Amerika sind es höchstens zwanzig Minuten.“
Mit neuem Mut trotte ich ihm hinterher. Wir passieren ein paar Kreuzungen, an denen andere Tunnel abzweigen.
„Da geht’s zum Himalaya“, erklärt Yeti dann, oder „Heeey, das ist der Weg zu meinem Ferienhaus auf Tasmanien!“
Ich bin beeindruckt. Mit solchen Wegen wäre auch mein Auftrag für Dracula sehr viel leichter geworden!
Schließlich wird Yeti langsamer, als wir eine Kreuzung aus fünf Tunneln erreichen. „Lass mich kurz überlegen.“ Er zeigt auf die Gänge. „Das ist Washington … Mexiko … Las Vegas … ah, dann muss das Area 51 sein! Auf geht’s!“
„Schilder habt ihr hier unten nicht aufgestellt?“, frage ich.
„Das war leider unmöglich. Wir hätten die in den Boden hämmern müssen, das wäre zu laut gewesen.“
Der Gang endet an einer verstärkten Metalltür. Yeti klopft dagegen und ich lege die Ohren an, als das metallische Donnern im Tunnel widerhallt.
Mit einem leisen Surren gleitet die Tür nach oben und führt uns in einen großen Aufzug, der an zwei Seiten offen ist, sodass man einmal den Tunnel und auf der anderen Seite nackten, unbehandelten, beigen Fels sieht. Als wir drinnen stehen, setzt sich der Aufzug rumpelnd in Bewegung. Bald kommen Lichter in Sicht und der Aufzug stoppt mitten in einem langen, unterirdischen Gang, der zu beiden Seiten weitergeht. Ich erkenne unzählige Türen, die vom Gang abgehen. Sie haben rote Lampen über sich, einige wenige leuchten. Manche der Türen haben Glasscheiben, durch die ich ins Innere sehen könnte, wenn wir nur etwas näher wären.
„Das war leicht“, murmele ich erstaunt.