Zur gleichen Zeit saßen Jonas, Franz und Mike auf dem Rand der Bühne und diskutierten den Ablauf des weiteren Abends. Unerwarteter Weise hatte sich Jonas doch noch bereiterklärt, dem Projekt eine faire Chance zu geben. Franz dachte sich, dass der Mann vielleicht nicht ganz so egozentrisch war, wie es der erste Eindruck hatte vermuten lassen. Man wusste allerdings auch nie, welche Erfahrungen jemanden zu manchen Äußerungen verleiteten und Mike hatte ihm im Vertrauen geschildert, dass die Anfänge der Pagans alles andere als ein Musterbeispiel einer Bandgründung gewesen waren.
Der erste Versuch, einen Manager zu arrangieren, war offenbar schmerzhaft danebengegangen und auch einige kurzzeitige Bandmitglieder hatte Jonas kommen und gehen sehen, als das Geld nicht so floss, wie diese es sich erwartet hatten. Schon möglich, dass hier die Wurzeln für sein merkwürdiges Verhalten neuen Mitarbeitern gegenüber lagen.
Franz hatte dennoch seine Mühe, auf die abwertende Art des Musikers nicht näher einzugehen. Manche spöttische Bemerkung des Bandleaders über Journalismus im Allgemeinen und Zeitungsreporter im Speziellen brachten ihn zur Weißglut. Am Ende war es ein einziger, unbedacht hingeworfener Satz, der alles neu entschied.
In seinem Zorn über den großmäuligen Jungspund gab Franz mehr preis, als er es sonst tat.
»Ich habe doch nicht jahrzehntelang aus der halben Welt berichtet, um mich heute von ein paar ehemaligen Straßenmusikern Amateur nennen zu lassen«, brummte er Jonas an.
Anstatt sich sofort von dem Jüngeren eine Abfuhr einzuholen, musterte der ihn überrascht und runzelte dann die Stirn. »Wie war dein Name gleich noch mal?«
Nun war auch der Journalist erstaunt, ließ es sich aber nicht anmerken: »Franz Meister.«
Dann sah er, wie sich die Pupillen in den Augen des Musikers vor Überraschung weiteten. »Der Franz Meister?«
Franz lachte. »Keine Ahnung, wer für dich der Franz Meister ist. Ich heiße jedenfalls so.«
Unruhig trommelte Jonas auf den Bühnenboden. »Der Franz Meister, den ich meine, war Auslandskorrespondent und hat ein paar tolle Bücher über die Menschen in Fernost und Westafrika gemacht – habe ich alle gelesen.« Ein wenig Stolz über diese Leistung schwang in der Stimme des Mannes mit. »Doch seit vier, fünf Jahren hört man nichts mehr von ihm … Sicher ein anderer Meister als du, oder?«
Franz war so überrascht, dass er den Sprecher nur schweigend musterte. Dass er hier auf einen Fan traf, war doch nicht wahrscheinlicher als Schnee im Juni, oder?
Mike aber nutzte die Gelegenheit sofort.
»Natürlich ist er der Franz Meister, von dem du gelesen hast. Denkst du, ich schleppe dir hier wirklich einen Anfänger an?«
Nun hatten sie ihn. Doch auch Jonas hatte Mikes Rede total verwirrt. Er rieb sich verschämt über das Gesicht und zupfte dann an einer seiner Rastalocken.
»Aber wenn … Wieso ... wieso solltest du dann ein solches Buch machen wollen?«
Dieselbe Frage hatte Franz schon öfters beantworten müssen. Wieso tat er, was er tat? Doch die Antwort war einfach. Er konnte einfach nicht mehr dorthin zurückkehren, wo ihm tagtäglich das Leid der Menschen entgegen schrie. Er, Franz, hatte genug gesehen. Und als er vor sieben Jahren in Pakistan seine jetzige Frau Sylvie kennengelernt hatte, die dort beim Einsatz einer schwedischen Hilfsorganisation schwer verletzt worden war, hatte er beschlossen aufzuhören.
Was nicht so schnell ging, wie er es sich erhofft hatte. Sylvie war danach noch lange in Behandlung gewesen und auch er musste erst einen neuen Lebensinhalt finden.
Irgendwann waren sie dann in Weidenau gelandet und nach vier mehr oder weniger erfolgreichen Kinderbüchern zum Thema Toleranz und Menschenrechte hatte er Marek, den Sänger der Corvidae, kennengelernt und mit dessen Band etwas ganz Neues ausprobiert. Das war die Kurzfassung dessen, was er erlebt hatte und es genügte Jonas zu aller Überraschung, ihm das Projekt fest zuzusagen. Ja, man konnte seiner Rede tatsächlich problemlos entnehmen, dass er sich für sein bisheriges Verhalten ein wenig schämte.
Franz ließ das Ganze auf sich beruhen. Wenn Jonas ihm entgegenkam, würde er sich nicht anders verhalten.
Anna stieß mit Lukas zu ihnen und wurde ebenfalls mit dem Bandleader bekanntgemacht. Als Jonas sie nach ihrem Beruf fragte, hielt Franz einen Moment lang die Luft an. Doch eigentlich hatte er gar keinen Grund dazu. Als Jonas hörte, dass Anna als Ärztin im Unikrankenhaus von Jena arbeitete, nickte er nur grinsend. »Hätte ich mir denken können«, meinte er lachend zu Franz, der ihn irritiert ansah. »Leute wie ihr bleiben gerne unter sich, oder?«
Anna und Franz waren beide um eine Antwort verlegen, aber vielleicht war etwas dran an dem, was Jonas meinte. Menschen wie Anna und er waren für andere schwer zu verstehen. Das wusste Franz längst. Schon möglich, dass sie sich deshalb unter Ihresgleichen wohler fühlten?
Mike löste die angespannte Stimmung mit irgendeinem Witz und es fiel niemandem außer Anna auf, dass der Künst-ler Lukas Mauren mit einem verschlossenen, ernsten Gesicht davon ging.
»Entschuldigt mich!« Die Fotografin stand ebenfalls auf und folgte dem Mann, der hinter der anderen Seite der Bühne verschwunden war. Sie brauchte nicht weit zu gehen.
Lukas lehnte an einer der Bühnenstützen und starrte in den dunkler werdenden Himmel. Was war er nur für ein naiver Narr! Dieser Franz und sie gehörten doch mit Sicherheit zusammen. Schon, wie er sie immer ansah, wenn er mit ihr sprach. Und jetzt Jonas' Bemerkung, der beide nicht widersprochen hatten! Anna hatte ihn ganz schön an der Nase herumgeführt. Und er war – wieder einmal – darauf hereingefallen.
»Hey!« Die Frau, die er gerade verfluchte, stand direkt neben ihm.
Lukas wandte sich ab. »Was willst du noch? Ihr habt den Auftrag. Das sollte doch wohl reichen, oder?«
Wieder sah er den Wolken zu, die in kleinen Gruppen über den dunklen Himmel zogen und den aufgehenden Mond zeitweise verbargen.
Anna war von der rauen Abfuhr nur teilweise überrascht. Es war ihr schon öfters passiert, dass Männer sich fluchtartig zurückzogen, wenn sie von ihrem Beruf oder ihren Kindern hörten. Irgendwie hatte sie schon damit gerechnet, dass auch Lukas ihre Arbeit nicht gefallen würde. Zwischen ihrem Job und seiner freischaffenden kreativen Tätigkeit lagen Welten. Trotzdem hatte sie gehofft, das es dieses Mal anders sein könnte, dass er verstand, warum sie gerade dort arbeiten musste, warum sie Nächte und Wochenenden im Krankenhaus verbrachte, während andere ihre Freizeit genossen.
Anna holte tief Luft. »Ja, es muss wohl reichen«, gab sie leise zu. »Aber nach diesem Nachmittag hätte ich mir gewünscht, dass du mir nicht so deutlich zeigst, wie groß der Abstand zwischen unseren Welten ist.«
Lukas verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. Doch es war auch egal. Bis zum Konzert blieben ihm noch knapp zwei Stunden und bis dahin musste er sich wieder gefasst haben. Darum wollte er Anna so schnell wie möglich loswerden. Darüber nachdenken konnte er irgendwann später.
»Ich hätte mir auch gewünscht zu wissen, dass du mit Franz zusammen bist!«, fauchte er zurück. »Warum hast du mir nicht gleich reinen Wein eingeschenkt?« Lukas sprach leise, obwohl er gern geschrien hätte. Doch das stand ihm nicht zu und er war auch nicht der Typ, der seinen Frust an anderen abreagierte. Am liebsten wäre er einfach verschwunden.
Ein halblautes Husten der Frau neben sich brachte ihn nun völlig aus der Fassung. Schon holte er tief Luft, um all seine Regeln und guten Vorsätze über den Haufen zu werfen und seinen Zorn herauszubrüllen.
»Ich bin nicht mit Franz zusammen.« Die Situation war einen Moment lang so unwahrscheinlich gewesen, dass Anna sich das ungläubige Kichern nicht hatte verbeißen können. Doch sie wollte keinesfalls, dass Lukas Mauren annahm, sie würde über ihn lachen und hatte versucht, das unpassende Geräusch hinter einem Räuspern zu verstecken.
»Haben wir wirklich bei dir diesen Eindruck erweckt?«, forschte sie nach, um dann nahtlos weiterzureden: »Franz ist mit Sylvie verheiratet. Von ihr haben wir doch auch gesprochen, vorhin im Café! Er würde nie … und ich auch nicht!« Anna starrte Lukas, der sich ihr inzwischen zugewandt hatte, mit großen Augen an. »Bist du deshalb weggegangen? Wegen Franz?«
Auch der Mann betrachtete die stammelnde Frau vor sich genau. Anna log nicht. Das sah man sofort. Warum sollte sie auch? Zögernd nickte er. »Das, was Jonas gesagt hat … Warum hast du ihm nicht widersprochen?«
Einen Moment lang war Anna verwirrt. Was hatte Jonas gleich noch gesagt? »Dass Leute wie Franz und ich gern unter sich sind? Meinst du das?« Anna lächelte nun entspannter. »Damit hat er schon recht. Doch es bedeutet nicht, dass wir zusammen sind und das meinte Jonas auch nicht. Er wollte wohl nur sagen, dass uns unsere Arbeit irgendwie verbindet, der Versuch, etwas für Menschen zu tun.«
Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Als Lukas die Stirn runzelte, wurde ihr klar, dass er ja nichts über die Vergangenheit ihres Freundes wissen konnte. Auch sie hatte nur aus der Bemerkung von Jonas erraten, dass dieser im Bilde war. »Franz war lange Zeit in Afrika, um über die Kriege und die Armut zu berichten. Er hat wohl ebenfalls ein Helfersyndrom …« Sie lächelte leicht und entschuldigend.
»Ich dachte, du bist deshalb weggegangen … weil du von meinem Beruf gehört hast … Blut, Krebs, Tod – du weißt schon.«
Sie schwieg und auch Lukas musste erst einmal verarbeiten, was er gehört hatte. Anna stand vor ihm, mit gesenktem Kopf und ineinander verschränkten Händen – wie ein kleines Mädchen. Dabei hatte sie ihm gerade noch in die Augen gesehen, um sich vor ihm zu rechtfertigen. Ja, sie war ihm nachgegangen, als er wie ein unerfahrener Teenie davongerannt war. Ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit. Er war ihr also nicht völlig egal. Sonst wäre sie nicht zu ihm gekommen.
»Ich bin ein Idiot, Anna«, murmelte er, »oder?«
Ihr Lachen war wirklich angenehm, befand er einen Moment später. Und ihre Stimme ebenso.
»Nein, ein Idiot bist du nicht, Lukas Mauren. Nur vorsichtig.« Anna zögerte einen Augenblick, dann strich sie ihm mit dem Handrücken über die rechte Wange. »Es ist nicht verkehrt, vorsichtig zu sein.« Wieder folgte ein kurzes Schweigen. »Keiner lässt sich gern von einem anderen verletzen.«
Lukas ergriff die Hand, die ihn gestreichelt hatte und Annas Linke gleich noch dazu.
»Manchmal muss man aber auch den Mut zu etwas Neuem haben, Anna«, erklärte er ihr entschlossen. »Ich will dich gern besser kennenlernen, jetzt erst recht und ganz unabhängig davon, was nun aus eurem Projekt wird.«
Er drückte ihre Hände und sah sie ernst an. »Dieser Nachmittag heute hat dir doch auch gefallen, oder? Du hast dich mit mir wohlgefühlt, Anna!« Lukas wollte es hören. »Oder?«, drängte er auf eine Antwort.
Ja, sie hatte sich bei dem witzigen, begeisterungsfähigen Mann wirklich wohlgefühlt. Und es war klar, dass ihm das nicht ergangen war. Sie nickte. »Ja, es war schön, Lukas, aber …« Sie wusste auch nicht, wie sie es sagen sollte, doch der Musiker kam ihr zuvor.
»Kein ›Aber‹, Anna. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, mit dir zusammen zu sein. Alles andere können wir später aushandeln. Dass du ein Kind hast, ist kein Problem und deinen Beruf werde ich schon verstehen lernen.«
»Zwei Kinder«, fiel Anna ihm leise ins Wort.
»Zwei Kinder.« Lukas zuckte mit den Schultern. »Von mir aus auch fünf – wir sind beide keine Teenager mehr. Ich will dich kennenlernen, Anna, weil mich das, was ich bisher von dir gesehen habe, fasziniert.«
Er würde sie jetzt nicht einfach in ihr Dorf im Nirgendwo verschwinden lassen, um sie vielleicht nie mehr wiederzusehen. Er wollte hier und jetzt eine Sicherheit, dass Anna ihnen eine Chance geben würde. Was dann daraus werden würde, wusste auch Lukas nicht. Doch er wollte einen Anfang. Und Anna?
Anna ließ sich von dem Moment und Lukas' Sicherheit ihr gegenüber mitreißen. Sie hatte nur wenige Männer kennengelernt, die sie vom ersten Augenblick an für sich einnehmen konnten. Lukas war einer von ihnen. Er hatte eine selbstbewusste Ausstrahlung und gleichzeitig hatte sie unbeschwert mit ihm lachen können. Er war neugierig, konnte zuhören und sie hatte sich von ihm nicht bedrängt gefühlt. Auch jetzt nicht, obwohl seine Worte mehr als drängend gewesen waren. Er hatte sehr beherrscht diskutiert. Das war etwas, was sie im Laufe der Zeit sehr zu schätzen gelernt hatte.
Doch was viel mehr wog als alle objektiven Betrachtungen war die Anziehung, die der ihr fast unbekannte Mann auf sie ausübte. Ja also. Ja, sie wollte ihn gern kennenlernen.
Als sie Lukas das nun leise versicherte, trat ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht. Ohne zu überlegen, zog er sie nahe zu sich und küsste sie. Kurz verharrte Anna überrascht, dann erwiderte sie die unerwartete Zärtlichkeit. Lukas' Lippen waren weich, kühl und fühlten sich berauschend auf Annas Mund an. Er war sich sehr sicher in dem, was er tat. Das spürte sie an allem, seiner Haltung, dem festen Griff seiner Hände um ihren Rücken und ihren Nacken, an seiner Atmung, die nicht wesentlich schneller wurde, während ihr Herz hektisch klopfte.
Sie ließ sich von seiner Zunge necken und dazu überreden, mit ihr zu spielen. Es war nach langer Zeit das erste Mal, dass sie einem Mann wieder so nahe kam und fühlte es sich richtig an.
Lukas spürte, wie Anna in seinen Armen nachgiebiger wurde und ihm entgegen kam. Er zog sie noch dichter zu sich und wünschte sich, diesen Moment festhalten zu können – einen Moment, in dem er einfach nur glücklich war.