Akkon, Mai 1256
Joran, Eure Mutter lebt. Wo immer ihr auch seid, wenn Euch diese Nachricht erreicht, kehrt nach Venedig zurück, so schnell es Euch möglich ist. Monna Marliana braucht Euch jetzt nötiger denn je.
Euer untertänigster Diener Jacopo
Joran Gianfranco Ferroni knüllte den Pergamentstreifen zusammen und wünschte, der Brief seines Dieners hätte ihn nie erreicht. Seine Mutter - am Leben!
Diese Nachricht war unglaublich. Ein Wunder, wie es ihm noch nie zuteilgeworden war. Doch eine beharrliche Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass dieser Wunder eher einem Sturz in den tiefsten Abgrund der Hölle gleichkam. Seine Kehle zog sich zusammen. Mit dem Schmerz des Verlustes war er zurechtgekommen. Er hatte ihn in blanke Mordgelüste umgewandelt und seine Peiniger gejagt, einen nach dem anderen. Er hatte sich keine Ruhe gegönnt, keinen Moment des Innehaltens, denn seine geschundene Seele hatte sich schlicht geweigert, sich dieser Qual auszuliefern. Seine Mutter wiederzusehen würde all die alten Wunden wieder aufbrechen lassen.
Er stopfte das Pergament in seine Gürteltasche zurück und stützte die Unterarme auf die Mauerbrüstung. In einer nur schwer zu ertragenden Mischung aus Melancholie und Zorn starrte auf das glitzernde Mittelmeer hinaus. Unter ihm brandeten schaumgekrönte Wellen gegen die Seemauern von Akkon. Nebenan, im Fischerhafen dümpelte seine Helena einträchtig neben den Booten der Einheimischen am Kai. Möwen kreisten um die Masten und stritten sich mit heiseren Schreien um die Reste des morgendlichen Fangs. In Jorans Ohren klang es wie Spott und Gelächter über seine missliche Lage. Zu spät, zu spät, zu spät ...
Joran stieß einen Seufzer aus. Er musste unverzüglich nach Venedig zurückkehren, daran gab es keinen Zweifel. Doch zuvor hatte er in Akkon einen Auftrag zu erledigen. Und dazu blieb ihm nur noch eine Nacht.
Verdammt!
Er hasste es, sich beeilen zu müssen. Hast verursachte mehr Fehler als Dummheit oder Nachlässigkeit. Und Fehler durfte er sich keine erlauben. Ohnehin schien sein Vorhaben nahezu wahnwitzig, bedachte man den Umstand, dass die Reliquie, die er zu stehlen beabsichtigte, sich in einem vergoldeten Schrein auf einem Seitenaltar der Basilika St. Andreas befand. Er hätte sich mehr Zeit gewünscht, um sich besser abzusichern, doch nun musste es eben auch so gehen. Joran machte eine unwirsche Geste mit der Linken. War er nicht Ash´abah, der Geist, ein Mann, der gelernt hatte, mit den Schatten zu verschmelzen?
Was nicht hieß, dass nicht tausend Dinge schief gehen konnten. Einen Moment lang fragte er sich, ob es richtig gewesen war, den Lockruf des Goldes über sein Gewissen zu stellen. Heiligte der Zweck tatsächlich die Mittel oder war er gerade dabei, sich ewige Verdammnis einzuhandeln, die er niemals mehr…
Joran wischte den Gedanken energisch beiseite. Seine Schwester verdiente ein sorgenfreies Leben, nach allem, was ihr zugestoßen war. Das schuldete er ihr. Und seine Mutter ... Der Himmel mochte wissen, welche Details Jacopo in seiner Botschaft ausgelassen hatte. Er brauchte ein Vermögen und der Verkauf der Reliquie bot ihm die Möglichkeit, es zu erlangen. So einfach war das.
Vielleicht war der Zeitpunkt aus der Stadt zu verschwinden, gar nicht einmal schlecht. Venezianer und Genuesen stritten sich schon jahrelang um die Handelsrechte in Akkon. Immer wieder hatte Joran in den vergangenen Monaten miterlebt, wie die vergiftete Atmosphäre zwischen den beiden Parteien zu gefährlichen Konfrontationen geführt hatte. Die Auseinandersetzungen konnten jederzeit in einen Bürgerkrieg übergehen. Damit wollte er nichts zu tun haben.
Joran wandte sich um und machte sich auf den Weg zum Viertel der Venezianer am Hafen. Bevor er die engen Gassen und Treppen der Altstadt erreichte, hielt er einen Moment inne und blickte gewohnheitsmäßig noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte.
Er erreichte das Lagerhaus, wechselte ein paar Worte mit dem Torwächter und trat ein. In dem ihm zugewiesenen Abteil stapelten sich Kisten mit Pfeffer und teuren Ölen, die er erworben hatte, um die Fassade des ehrenwerten Kaufmanns aufrecht zu erhalten. Er begab sich zum Pult des Aufsehers, bestellte zwei Träger, die seine Kisten zum Hafen bringen sollten, und erledigte alle Formalitäten, die vor der Abreise erforderlich waren. Anschließend stieg er die Stufen zu der kleinen Kammer hinauf, die er in den vergangenen Monaten bewohnt hatte. Er packte seine Habseligkeiten in einen Seesack, schwang sich die Last auf die Schulter und machte sich auf den Rückweg zu seinem Boot. Geduldig erwartete er die Ankunft der Träger, die seine Kisten brachten und ihm halfen, sie im Laderaum zu verstauen. Schließlich war alles vorbereitet. Joran reichte jedem der Träger eine kleine Münze und schickte sie fort. Er sicherte die Ladeluke sorgfältig, griff nach einem leeren Sack und stieg wieder auf den Kai. Die Zeit bis zur Non verbrachte er im Basar, kaufte Reiseproviant und einige persönliche Kleinigkeiten. Nachdem er auch diese Dinge im Laderaum der Helena verstaut hatte, suchte er sich einen Platz im Schatten der Hafenmauer und ließ sich dort nieder.
Nun galt es zu warten, bis die Nacht hereinbrach und die belebten Gassen sich leerten. Zu seinem Leidwesen schliefen die meisten Bewohner von Akkon während der heißen Monate auf den flachen Dächern ihrer Häuser. Das war lästig, ließ sich jedoch nicht ändern.
Joran spürte Angst, aber auch eine gewisse Erregung, als er in der Dunkelheit sein Boot verließ, wo er sich in die schwarzen Kleidungsstücke Ash´abahs gehüllt und den Gesichtsschleier angelegt hatte. Er huschte eine Treppe hinauf und bog in die Gasse ein, die zur Basilika führte. Im schwachen Licht der Sterne konnte er nicht viel sehen, doch er war den Weg oft genug bei Tageslicht gegangen, um sich jetzt zurechtzufinden. Immer wieder führte die Gasse unter brückenähnlichen Konstruktionen aus Stein oder Holz hindurch, die sich über die Straße wölbten, beide Häuserseiten miteinander verbanden und nützliche Schatten warfen, die ihn vor allzu neugierigen Blicken verbargen. Unbehelligt erreichte er eine Seitenpforte der Basilika und schlüpfte ins Innere.
Joran huschte einen Säulengang entlang in Richtung der Seitenkapelle. Die Werkzeuge an seinem Gürtel klirrten leise gegeneinander. Er blieb stehen, rückte den Gürtel zurecht und lauschte.
»Confiteor Deo omnipotenti, et vobis, fratres, quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione ...«
Die Stimme war sehr leise. Sie klang, als sei der Sprecher auf der anderen Seite der Kirche, irgendwo im Hauptschiff der Basilika.
So leise wie möglich ging Joran weiter.
Kurz darauf hatte er den Eingang zur Seitenkapelle erreicht, ein von mächtigen Säulen flankiertes Portal, das den Blick der Gläubigen direkt auf den Altar lenkte. Das sanfte Licht zweier Kerzen hob den vergoldeten, von einem Fresko überwölbten Reliquienschrein aus der Dunkelheit hervor und tauchte ihn in geheimnisvollen Glanz. Den Berichten zufolge enthielt der Schrein ein Reliquiar mit drei Barthaaren Christi, die sich reger Verehrung erfreuten.
»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa ...«, ertönte die Stimme wieder.
Joran huschte tiefer in die Kapelle hinein und verbarg sich hinter dem Altar. Hier waren die Schatten tiefer, die Wandfresken und Mosaiken der Kapelle in der samtigen Schwärze kaum zu erkennen. Joran neigte den Kopf und lauschte, doch der Betende war verstummt. Die Stille war so vollkommen, dass Joran den Atem anhielt. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
In diesem Augenblick schlugen die Glocken der Basilika mit durchdringendem Dröhnen Mitternacht. Joran riss sein Brecheisen aus dem Gürtel und brach die Rückseite des Schreines auf. Er hoffte, dass die Glocken genügten, um den Lärm zu übertönen, den er dabei unweigerlich veranstaltete. Wenig später hielt er das beinahe zwei Finger lange Reliquiar in den Händen. Er verstaute es vorsichtig in seiner Gürteltasche, lief zum Eingang der Kapelle und spähte in den Säulengang. Ein lähmendes Gefühl kroch seinen Rücken hoch. Er zuckte zurück und duckte sich hinter eine der Säulen.
Ein Schemen im weiten Gewand stand zwischen ihm und dem Ausgang.
Der Störenfried, der während der letzten dröhnenden Glockenschläge den Säulengang betreten hatte, trug die Ordenstracht eines Tempelritters. Und er wirkte nicht, als sei er zum Beten gekommen. Seine Hand lag am Schwertgriff und er sah sich aufmerksam um. Joran fluchte lautlos. Da hatte er wohl doch mehr Lärm veranstaltet, als ihm klar gewesen war. Er zog sein Brecheisen aus dem Gürtel und schleuderte es mit aller Kraft gegen den Ritter. Doch der sprang zurück, sodass das Werkzeug gegen die steinerne Säule prallte und zu Boden polterte.
»Rafael«, schrie Joran und rannte auf die Gestalt im weißen Habit zu, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. »Rafael! Jacopo! Gabriele! Zu mir! Sofort!«
Und tatsächlich fuhr der Templer herum und riss sein Schwert aus der Scheide in Erwartung heranstürmender Männer.
Entschlossen hob Joran sein Brecheisen auf und flitzte zwischen den Säulen hindurch Richtung Hauptschiff. Er presste sich in eine Nische, hielt den Atem an und lauschte. Die hastenden Schritte des Templers verlangsamten sich, verstummten.
Was tat er?
Joran spürte, dass er ganz in der Nähe war und ihn belauerte. Mit eisigen Fingern griff die panische Angst nach seinem Verstand, eine archaische Furcht vor der Gefahr, die man nicht sehen konnte und der man hilflos ausgeliefert war. Sein Herz raste.
Reglos verharrte er in seiner Nische, schluckte trocken und wartete ab.
Endlose Augenblicke verstrichen.
Zuerst war er sich nicht sicher. Doch dann hörte er ein leises Rascheln. Offenbar bewegte der Templer sich auf ihn zu, bedächtig, langsam, leise.
Joran spannte die Schultern an und sank langsam in die Hocke. Da war es wieder, dieses Schlurfen. Ganz nah.
Joran warf sich in eine Rolle vorwärts, die ihn an dem Templer vorbei trug. Im Rücken des Mannes kam er auf die Füße und hob sein Brecheisen. Doch der Ritter war schnell. Er fuhr herum und ließ die Schwertklinge durch die Luft zischen. Joran warf sich zur Seite, landete unsanft auf den marmornen Bodenfließen und rollte sich gerade noch aus der Reichweite der blitzenden Klinge, die ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Während der Ritter das Schwert erneut hochriss, gelang Joran ein Tritt in die Kniekehle des Mannes. Der Templer taumelte mit einem gurgelnden Schmerzenslaut vorwärts, fing sich jedoch sofort wieder und fuhr kampfbereit herum. Joran reagierte blindlings und ohne nachzudenken. Er warf sich einfach nach vorn und rammte dem Angreifer die Schulter in die Seite. Wie zu erwarten war, richtete der Stoß keinen nennenswerten Schaden an. Dennoch war die Wucht von Jorans Ansturm so groß, dass der Templer zwei Schritte zurücktaumelte. Noch während er mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte, riss Joran sein Brecheisen heraus und deckte seinen Gegner mit einem Hagel wüster Hiebe ein, die diesen zwar nicht ernsthaft in Gefahr brachten, ihn aber daran hinderten, sein Schwert nutzbringend einzusetzen.
Doch der Templer ließ sich nicht lange an der Nase herumführen. Er hatte seine Überraschung überwunden, parierte den letzten Hieb dergestalt, dass Joran um ein Haar das Brecheisen aus der Hand geschlagen worden wäre und setzte mit einer blitzschnellen Bewegung nach. Die Schwertklinge riss Joran den Unterarm vom Handgelenk bis zum Ellbogen auf und fügte ihm im Hinaufschnellen einen äußerst schmerzhaften Schnitt an der Wange zu.
Joran taumelte zurück und stieß gegen eine Säule, die seinen Sturz aufhielt. Der Templer setzte nach, hielt ihn mit dem ausgestreckten Schwert in Schach und Joran wusste, dass sein Gegner ihn auf der Stelle töten konnte, wenn er es wollte. Erstaunlicherweise verzichtete der Tempelritter jedoch darauf. »Gib dich zu erkennen«, verlangte er stattdessen. »Nimm den Schleier ab, damit ich dein Gesicht sehen kann, du schleimige Made!«
Gelähmt vor Angst starrte Joran auf die Schwertspitze. Sein Herz pumpte glutflüssige Lava durch seine Adern. Blut sickerte pulsierend aus seinen Wunden und tropfte zu Boden. Er konnte sich selbst keuchen hören und versuchte, sich zusammenzureißen.
»Nun? Wird´s bald?«
Joran rührte sich nicht. Bleib ruhig, ermahnte er sich. Keine Panik! Keine Verkrampfung in den Schultern. Keine unbedachten Bewegungen, die deinen Gegner herausfordern könnten!
Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte. Hastige Schritte und aufgebrachte Stimmen hallten durch die Basilika. Was ging da vor?
Der Kopf des Templers zuckte in Richtung des Eingangsportals. Zwei, drei Herzschläge nur war er abgelenkt, doch das genügte Joran. Er schob sich an der Säule entlang auf die Rückseite und rannte, so schnell er konnte auf den Ausgang der Seitenkapelle zu. Verblüfft registrierte er, dass der Templer ihm nicht folgte. Im Gegenteil. Im Hauptschiff schien ein heftiger Streit in Gang gekommen zu sein. Polterndes Getöse hallte durch die Basilika, als würden die großen bronzenen Kerzenhalter neben dem Hauptaltar umgestoßen, dazu Schreie und wütende Ausrufe. Joran war das gleichgültig. Er stürzte aus der Tür und eilte die Gasse zum Hafen entlang, so schnell er konnte. Sein Arm schmerzte höllisch und er konnte spüren, wie das Blut warm in seinen Handschuh sickerte. Vermutlich hinterließ er eine sichtbare Spur aus Blutstropfen, die bei Tageslicht leicht zu verfolgen sein würde. Er musste zu seinem Boot, um die Wunde zu versorgen, durfte etwaige Verfolger jedoch keinesfalls auf die Helena aufmerksam machen. Und das Ganze musste verdammt schnell gehen, bevor er zu viel Blut verlor. Ohnehin fühlte er sich schon seltsam leicht im Kopf. Himmel, auf was hatte er sich da eingelassen?