Kapitel 2
Ellen duckte sich und ihre Finger vergruben sich in die feuchte Erde des Waldbodens. Sie mochte Erde, nur das Dumme war, sie blieb immer unter den Fingernägeln hängen. Vorsichtig spähte über das Gebüsch und beobachtete eine kleine Holzhütte, die zwischen zwei Nadeltannen ihren Platz einnahm. Ellens Haare kamen ihr in den Weg und sie zerstörten die Sicht auf die Hütte. Ihre Mutter würde jetzt sagen: „ Das ist eben immer der Nachteil, wen man braunen langen Haaren hat.“ Ihr Körper war ausserdem schlank aber ziemlich schlaksig gebaut. Er passte eigentlich nicht zu ihrem Gesicht, welches rund und bedeckt mit vielen Sommersprossen war. Dazu hatte sie graublaugrüne Augen.
Ein Haselstrauch raschelte in ihrer Nähe und hinter den Zweigen erschien Amys Kopf. Amy war die beste Freundin von Ellen schon seit der 1. Klasse und noch nie hatten sie sich richtig gestritten. Amy hatte im Gegensatz zu Ellens langen brauen und geraden Harren, kurze blonde Harre. Das Spezielle an ihren Haaren war, sie waren natürlich wild und zerzaust. In den äusseren Haarpartien erwiesen sich die Haare gerade aber im Inneren stark gelockt.
„Bist du bereit?“, flüsterte Amy ihr zu. Sie nickte und wandte den Kopf zu einem Stachelpalmengebüsch um. „Marie, bist du ebenfalls bereit?“ Hinter den stachlig, grünen Blätter kamen die schulterlangen, ganz leicht gewellten, blondbraunen Harre zum Vorschein und danach folgte das ausgeprägte Gesicht von Marie. Auch sie nickte und ihre strahlenden wässerig blauen Augen musste sie zusammen kneifen wegen den hereinfallenden Sonnenstrahlen, die es von den Baumwipfeln bis zum Waldboden geschafft hatten. Der Wald roch nach frischen Tannennadeln und spriessenden Knospen. Keine Frage der Frühling hatte den Winter im Wald besiegt. Eigentlich hiess Marie mit vollem Vornamen Marie-Kristin. Die meisten Menschen jedoch nannten sie einfach kurz Marie. „Dann los aber ganz leise“, flüsterte Amy.
Auf allen Vieren krochen sie aus dem sicheren Buschversteck auf die Hütte zu, aus der gedämpfte Stimmen drangen. Die Hütte war nicht besonders gross, sie bestand aus einfachem hellbraunem Buchenholz. Die kleine Tür war rot lackiert und besass winzige Ritzen. „ Alles noch mal von vorne“, flüsterte Marie ganz leise, obwohl für sie leises Flüstern schwierig war, sie konnte eben nicht besonders leise Flüstern, das lag wohl an ihrer lauten Stimme. „Ich gehe mit Ellen zu den Fahrrädern und du, Amy, hältst Wache. „ Abgemacht“, antworte Amy einwilligend. „Ich rufe wie eine Schleiereule, wenn jemand aus der Hütte kommt.“ Ellen beäugte unterdessen die vier Fahrräder, die alle an eine Buche angelehnt waren. „Unser Plan kann starten", murmelte Ellen. Marie griff sich in ihre Jackentasche und zog ein, mit einem rot-schwarz kartierten Tuch, eingewickeltes Bündel hervor. Sie öffnete den Knoten vorsichtig, als ob sich eine Bombe darin befinden würde. Am Grunde des Tuches taumelten sechzehn lange und dicke braune Nacktschnecken umher, frisch gesammelt und extrem glitschig. Marie nahm mit einem etwas ekelerregtem Gesicht acht Nacktschnecken in ihre grosse Handfläche und schlich auf leisen Sohlen zu den vier Fahrrädern. Vier der Nacktschnecken verteilte sie auf einem Lenker eines schwarzen Fahrrades. Die restlichen vier wurden auf den Lenker des benachbarten, westlich kleinerem Fahrrad verteilt. Ellen hatte sich auch währenddessen acht Nacktschnecken geangelt und verteilt sie auf die restlichen zwei Fahrräder. Nach der getanen Tat hasteten die Mädchen schnell zu Amys Wachposten zurück. „Alles erledigt?“, flüsterte Amy. Ellen und Marie nickten belustigt mit ihren Köpfen. „Jetzt müssen wir sie nur noch rauslocken“, meinte Amy und warf sicherheitshalber einen Blick auf die kleine Hütte. „Aber wie machen wir es am besten?“, stirnrunzelnd fragte Ellen ihre beiden Freundinnen. Marie überlegte rasch und wusste gleich eine Antwort. Sie war schon immer eine ideenreiche Person und hatte oft eine gute Idee (meistens jedenfalls). „Jemand von uns dreien klopft an ihre rote Tür, die Tür wird aufgemacht, sie sehen uns und werden uns garantiert
folgen“. „Dabei werden sie sicherlich zu den Fahrrädern eilen und es wird für sie schleimig.“, kam es von Maries Munde wie aus der Pistole geschossen. „Gut, ich werde es erledigen“, meldetet sich Amy freiwillig. Eigentlich war Amy ein bisschen schüchtern im Kontakt zu Menschen aber in anderen Situationen war sie wieder die Mutige. Amy pirschte sich vorsichtig näher an die Hütte heran und achtete darauf, dass ihre Schuhe nicht zu laut den trocken, erdigen Waldboden zum Knirschen brachten. Ellen hielt neben Marie den Atem an während Maries sich bereit machte um zu flüchten. Amy hob ihre leicht schmutzige Hand gegen die hölzerne Tür und formte sie zu einer Faust. Gerade wollte sie die Faust zum Erklingen bringen als die Tür ruckartig aufsprang. Amy war für zwei Sekunden erstarrt vor Schreck. Sie ergriff jedoch noch rechtzeitig die Flucht. Vier Jungs traten aus der Türschwelle. Der Erste war der Anführer dieser Bande und hiess Sascha. Er war kräftig gebaut, mittelgross, grüne Augen und hatte blond-braune Harre, die unter einem Cap versteckt waren. Er liess sich aber die Haare an der Stirn wachsen damit er ganz schön coole längere Spitzen bekam. Ausserdem wurde sein Gesicht von Sommersprossen bedeckt, genau wie bei Ellen. Hinter Sascha folgte Levin auch der Riese genannt. Er war nämlich fast einen Kopf grösser als Sascha. Seine Strohblonden Haare und die blauen Augen hingen ihm über die Stirn. Er erinnerte irgendwie an einen Prinzen aber Marie, Ellen und Amy empfanden dies nicht wie mache andere Mädchen. Der dritte der Mannschaft trug den Namen Noé. Die dunkelbraunen Harre und die ebenso dunkelbraunen Augen gefielen den Mädchen schon viel besser. Der letzte war ein Halbitaliener. Ein kleinerer Junge namens Nino mit einer braungebrannten Haut, schwarzen Harren und dunkelbraunen Augen. „Was zum Teufel habt ihr hier verloren!“, brüllte Sascha als er die drei Mädchen entdeckt hatte. Amy, Marie und Ellen flüchteten Hals über Kopf von der Hütte weg, in den dichten Wald. „Nichts wie hinterher“, rief Levin. Sie eilten zusammen zu den Fahrrädern um diese frechen Gören schleunigst einzuholen. Kaum hatten sie sich auf ihre Satteln geschwungen schrie Nino als Erster auf. „IIIggitt!“ Auch Noé bemerkte, das an seinem Lenker etwas Schleimiges seine Finger berührt hatten. Levin schüttelte wild seine Hand, an der etwas Braunes hing, nach allen Richtungen. Die arme Nacktschnecke flog im hohen Bogen auf den Waldboden und begab sich schnell in die Sicherheit(obwohl es bei einer Schnecke nie schnell gehen konnte). Sascha zog gerade die Letzte von seiner Hand hinunter mit einem ekelerregenden Gesicht und warf sie mit einem platschenden Geräusch auf den Boden. Sascha und Nino knurrten vor Wut und traten fest in ihre wackligen Pedalen dicht gefolgt von Levin und Noé. Sie konnten sehr gut im Wald Fahrrad fahren weil sie sich fast jeden Nachmittag hier trafen.
Marie, Ellen und Amy kicherten laut als sie die wütenden Schreie hörten. „Beeilung!“, rief Marie und stürmte über den erdigen Waldboden. Sie versuchte jeder Baumwurzel auszuweichen damit sie nicht stolperte. Auf der Flucht schlug Amy einen Ast hektisch aus dem Weg. Er schleuderte zurück und traf direkt an die Wange von Marie. „Pass doch gefälligst!“. Marie war empört und hielt sich, die vor Schmerz brennende Wange. Amy hatte keine Zeit um sich lange zu Entschuldigen. Sie überholte Ellen und erblickte mit keuchendem Atem den Waldausgang. Leider war Marie nicht gerade die schnellste Läuferin und so wurde sie immer langsamer. Während Amy und Ellen den Wald nach einem kurzen Sprint aus dem Wald schossen. Rannte Marie noch ein gutes Stück weiterhinten an einer grossen Fichte vorbei. „Marie sie werden jeden Moment kommen“, drängte Ellen Marie vom Waldausgang aus. Tatsächlich hinter den hintersten Tannen, soweit das Auge im Wald sehen konnte, kamen vier Fahrräder den benutzen Waldweg hinuntergesaust. Marie strengte sich an und erreichte den Waldausgang wo die Beiden anderen warteten. „Jetzt aber los“, kreischte Amy „ Sonst sind wir geliefert.“ Vor ihnen lag eine grosse grüne und saftige Wiese. In der Mitte der Wiese ragte eine kleiner Hügel empor, der perfekte Schlittel Hügel im Winter. Sie rannten so schnell es auch nur gehen konnte über die knöchelhohe Wiese. Hektisch spähte Marie zurück und sah, wie die vier Fahrräder schossen aus dem Waldausgang mit ihren vier wütenden Fahrern. „Sie werden uns gleich einholen“, rief Marie zu den Anderen. Amy wurde Abgelenkt und schaute nicht wohin sie ihren Fuss eilig absetzten wollte. Sie trat direkt in ein, von einer Kuh hinterlassendes, grosses und schlammiges Loch. Ihr Fuss knickte ein und Amy stolperte ins Gras. Als sie sich Sekundenschnell wieder aufrichtete und zu ihrem alten Tempo zurückkehren wollte packte eine kräftige Hand ihren Arm und verdrehte ihn in die falsche Richtung. Amy fuhr herum und sah Sascha in das Gesicht. Anscheinend war er vom Fahrrad gehüpft als er gesehen hatte wie Amy gestürzt war. Auf seiner Stirn waren grosse Schweissperlen zu erkennen und seine grünen Augen funkelten vor Wut. Ellen und Marie rannten noch ein paar Schritte weiter, bis sie begriffen, dass Amy nicht mehr mitrannte. Ellen bremste ab, warf einen prüfenden Blick über die Schulter. „Wir müssen Amy helfen“, meinte Marie als auch sie bemerkte warum Amy nicht mehr mitgekommen war. Gemeinsam mit Marie stürmte Ellen wieder zurück. Ellen warf sich gleich auf Sascha und stiess ihn grob zurück während Marie Amy von Saschas Griff befreite. Es blieb aber keine weitere Zeit übrig um zu Flüchten. Die vier Jungs hatten ihre Fahrräder liegen gelassen und kreisten Marie und Ellen ein. Amy hatte sie aber für einen klitzekleinen Moment vergessen. Leise schlich sich Amy zu den Fahrrädern. Ihre Abwesenheit blieb aber nur ganz kurz unbemerkt. Der Erste, der es bemerkte war der grosse Levin. „Kommst du sofort her!“, brüllte er packte Amy hastig am Handgelenk, zog sie in den Kreis. Levin stiess Amy unsanft zu Ellen und Marie in die Mitte. „Das war eine ganz tollte Nummer mit diesen verfluchten Nacktschnecken“, knurrte Sascha voller Wut. „Wir haben und bloss für das letzte Mal, als ihr in der Schule bei unseren Fahrradreifen die Luft rausgelassen hattet, gerächt.“ verteidigte sich Marie. „Ja, genau und einmal habt ihr Wasser in unsere Schulrucksack geschüttet habt“, ergänzte Ellen wütend. „Das war meine Idee mit dem Wasserstreich“, verkündete Noé mit einem leicht stolzen und schadenfrohen Lächeln. „ Interessiert uns nicht die Bohne!“, antwortete Amy bissig zurück. Die rachefreudigen Jungen zogen ihren Kreis enger. Ellen fauchte wie eine Katze und wollte demonstrieren, dass sie ja nicht näher kommen sollten. „Hört euch die Möchtegernkatze an“, flötete Nino. „Nur weil ihr als Bandenmaskottchen eine Katze habt, heisst es noch lange nicht, dass ihr Katzen seid.“ Er hatte Recht, manchmal übertrieben es Amy, Marie und Ellen mit ihrem Bandenmaskottchen, der Katze. Katzen waren einfach frei, wild(die meisten jedenfalls), mutig, intelligent und egoistisch deshalb war es eben das Bandentier von Marie, Amy und Ellen. Die Jungs vor ihnen waren ebenfalls eine Bande,die Lieblingsfeinde der Mädchen und hiessen die frechen Tiger. Ellen packte die beiden Handgelenke von Amy und Marie und fuhr ihre Fingernägel über ihre weiche Haut, wie scharfe und spitze Krallen. Diese geheime Zeichen bedeute so viel wie: Angriff! Gleichzeitig griffen sie in ihre Hosentaschen und zogen eine kleine Wasserpistole heraus, geladen mit viel Wasser. Bis die Jungs auch nur etwas begriffen, so dumm waren sie leider, schoss ihnen einen kalter Wasserstrahl ins Gesicht. Die drei Freundinnen nützen die günstige Gelegenheit um die Kurve zu kratzen dabei rannten sie die steile Flanke des Hügels hinauf. „ Verdammte Katzenmädchen“, rief Levin voller Wut ihnen hinterher. „Auf die Fahrräder“, befahl Sascha. Sie setzten sich blitzschnell auf die Drahtesel und traten fest in die Pedalen. Nach wenigen Metern machten alle ihre Reifen eine komische Bewegung. Sie verloren gleichzeitig das Gleichgewicht und fielen Kopf voran in den Dreck. Auf dem Hügel beobachteten Marie, Ellen und auch Amy das lustige Schauspiel ganz amüsiert. Gerade schauten sie zu, wie sich ihre schlimmsten Banden Feinde, mit schmutzigem Gesicht und Kleidern, sich wieder aufrichteten. „ Dies werdet ihr noch bitter Büssen, ihr verdammten die wilden Krallen“, drohte Noé laut von unten. „Und vor allem diejenige von euch, die so frech war und unsere Ventilstöpsle aufgedreht hatte.“ „Bist es gewesen, Amy?“, fragte Ellen sie. „Jop“, kam es von Amy stolz hervor. „Einen kurzen ungesehenen Moment genügte.“ „Wir haben den Kampf gewonnen“ jubelte Marie und machte einen siegesbewussten Hüpfer. „Wegen dir Amy.“ „Ich denke wir haben alle zum Sieg verholfen“, bemerkte Amy etwas verlegen. Die wilden Krallen liessen sich ins frühlingsfeuchte Gras sinken und genossen wie der leichten Wind an ihre Köpfe vorbei zog. Sie wussten der Bandenkrieg war sehr, sehr kindisch aber in diesem Alter musste man sich für jede Kleinigkeit rächen. Von diesem Hügel konnte man fast das ganze kleine Dorf sehen. Die kleinen verschiedenen Quartiere waren von grünen Wiesen und kleinen Wäldern umgeben was recht typisch für ein kleines Dorf in der Innerschweiz genauer gesagt in Udligenswil war. Das schönste Dorf der ganzen Welt.