MAX
Ich kam nach Hause und wurde schon von meinem Vater erwartet. „Wo warst du?", fragte er mit wütender Stimme. „Bei einem Freund.", entgegnete ich ihm ruhig. „So lange? Was soll denn seine Familie von dir denken? Letztendlich wirft dein schlechtes Benehmen auch Schatten auf uns." Ohne ein Wort zu sagen lief ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Ich öffnete meine Tür und schmiss sie dann mit voller Wucht hinter mir zu. „Blödmann..."
Ich zog mich um und legte mich erschöpft ins Bett. „Tom hat wirklich etwas drauf. Ich hätte es zwar von ihm nie erwartet, aber er scheint wirklich ein netter Kerl zu sein. Ein etwas seltsamer Vogel, aber nett.", so redete ich leise vor mich hin. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Die Sachen, die meine Mutter gebügelt hatte lagen verstreut im Zimmer rum. Sie hatte mich zwar gebeten sie ordentlich wegzuräumen, aber nach einem Streit mit meinem Vater hatte ich sie in meinem Zimmer umher geworfen. Wenn ich mein Zimmer mit dem von Tom verglich, stellte ich fest, dass es unterschiedlicher gar nicht sein konnte.
Ich versuchte zu schlafen. Doch es gelang mir nicht. Die umher geworfenen Sachen störten mich plötzlich. Deshalb stand ich auf und räumte sie weg. Tat ich dies, weil es in Toms Zimmer so ordentlich war? Ich wusste es nicht. Nur, dass es mich störte war sicher. Als alles weggeräumt war legte ich mich wieder hin, doch konnte immer noch nicht schlafen. Immer wieder wälzte ich mich hin und her. Am Ende gab ich den Versuch einzuschlafen auf. Ich machte das Licht an und nahm den nächst besten Gegenstand in meine Hand, den ich zu fassen bekam. Es war ein Foto. Dort war ich mit meinem Vater zu sehen, wie er mir gerade zu erklären versuchte, wie man das Öl im Auto wechselt. Ein kurzes Lächeln überkam meinen Mund. OK...Vater war nicht immer so ein Idiot. Manchmal war es sogar lustig mit ihm. Ich erinnerte mich an meinen vierzehnten Geburtstag, wo ich mir aussuchen durfte, was die Familie an diesem Tag unternehmen sollte. Ich entschied mich für einen gemeinsamen Spieletag. Es war der Letzte, den wir jemals wieder gemacht hatten. Noch mal sah ich auf das Foto und entdeckte zu meiner großen Überraschung meinen kleinen Bruder im Hintergrund des Bildes. Das war mir nie aufgefallen. Man sah nur seinen Kopf im Türrahmen. Robert hatte es nicht leicht. Da mein Vater glaubte, dass er bei mir irgendetwas falsch gemacht hatte, versuchte er es bei meinem Bruder richtig zu machen. Zeitweise bekam er so viel Aufmerksamkeit, wie ich in meinem ganzen Leben nicht und manchmal erhielt mein Bruder schon bei Kleinigkeiten Schläge. Robert wusste nie, wie er sich verhalten sollte und oft lag er in seinem Zimmer und weinte. Plötzlich musste ich an Lori, die tote Schwester von Tom, denken. Tom und sie waren Zwillinge. Robert und ich hatten nie so eine herzliche Beziehung, obwohl solche bestimmt manchmal bei vielen Problemen geholfen hätte. Ich wusste immer genau, wenn mein Bruder weinte, denn er wohnte im Nachbarzimmer und die Wände zwischen seinem und meinem Zimmer waren sehr dünn. Ich hörte ihn weinen und war dennoch nie rüber gegangen. Mein Magen fühlte sich plötzlich krank an. Ich stand wieder auf und ging zu der Wand, die mein Zimmer von Roberts trennte. Ich presste mein Ohr daran, hörte aber nichts. Er musste ruhig schlafen. Ich wollte mich schon wieder ins Bett legen, als ich einen leisen Seufzer vernahm. Vielleicht träumte er ja schlecht. Doch kurze Zeit später hörte ich wieder einen Seufzer. Er schlief wohl doch nicht. Kurzerhand beschloss ich in sein Zimmer zu gehen. Ich klopfte leise an seine Tür, doch er reagierte nicht. Dennoch öffnete ich sie und ging hinein. Ein unecht klingender Schnarchlaut ertönte. „Robert, ich weiß, dass du noch nicht schläfst." Mein Bruder drehte sich zu mir um. „Max? Was suchst du hier?"
„Ähm... nun..."
„Ja?"
„Ich hab dich weinen gehört." Robert drehte sich wieder um. „Na und. Es hat dich bis jetzt doch auch nicht gestört. Oder war ich zu laut und du konntest dadurch nicht schlafen?" Ich kratzte an meinen Kopf. Das war mir ziemlich unangenehm.
„Ich hab mir Sorgen gemacht."
„Du?"
„Ja." Wütend fügte ich hinzu: „Ist das denn so unvorstellbar?" Nun drehte sich mein Bruder wieder mit dem Gesicht zu mir. Ich atmete tief durch und versuchte gelassen zu klingen. „Wollen wir reden? Wir haben, glaub ich, noch nie richtig miteinander geredet." Robert setzte sich auf und nickte mit seinem Kopf. „OK." Ich setzte mich mit auf sein Bett und sah ihn an. Der Mond schien in sein Fenster und die Strahlen erhellten das Zimmer. Die eine Gesichtshälfte von Robert wirkte angeschwollen. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?" Er hielt seine Hand aufs Gesicht. „Ich hab Mutters Schüssel fallen lassen. Die Gute mit dem Goldrand. Da ist Vater wütend geworden." Hastig fügte er hinzu: „Aber es war richtig, dass er mich gehauen hat, denn man muss mir zeigen, wie man mit Idioten umgeht. Es war meine Schuld."
„Hat er dir das gesagt?" Wieder nickte er. Ich kannte diesen Wortlaut nur zu gut. Wie oft habe ich gehört, als er mich schlug, dass man so mit Idioten umgehen musste. Vater ließ seine Wut nun ausschließlich an Robert aus, da ich so gut wie nie zu Hause war. Jetzt fing ich an mir Vorwürfe zu machen. „Es tut mir leid Robert." Verwirrt sah er mich an. „Wieso tut es dir leid?" Leise sagte ich: „Ich hätte öfters zu Hause sein sollen und hätte schon viel früher nach dir schauen müssen. Ich bin halt ein Idiot." Plötzlich sprang er auf und drückte mich. „Nein, nein. Du bist kein Idiot. Du bist mein Vorbild."
„Was?"
„Du bist stark und weinst nie und außerdem bist du der beste Fußballspieler den ich kenne." Ich fühlte mich schlecht. Wie oft hatte ich abends geweint, weil Vater mich wieder geschlagen hatte. Doch das konnte ich Robert ja schlecht sagen. „Ich bin kein Vorbild. Wirklich nicht. Es ist doch nicht schlimm, wenn du weinst."
„Wirklich nicht?"
„Nein, es ist nicht schlimm. Wollen wir jetzt dein Gesicht kühlen? Unten ist bestimmt noch Eis."
„Aber wir dürfen Vater nicht wecken."
„Natürlich nicht." Wir standen auf und liefen leise runter in die Küche. Vom Schlafzimmer aus hörten wir lautes Schnarchen. „Mutter schnarcht wieder.", flüsterte ich leise Robert zu. Wir beide mussten uns ganz krampfhaft verkneifen laut loszulachen. In der Küche angekommen nahm ich ein großes Packet Schokoladeneis aus dem Tiefkühler und wir aßen es auf. „So hab ich mich immer abgekühlt. Du wirst sehen, das hilft mehr, als sich Eiswürfel auf das Gesicht zu legen." Als das Eis dann restlos alle war gingen wir wieder auf Roberts Zimmer. „Komm, leg dich hin. Ich decke dich zu. Versuch ein bisschen zu schlafen." Er legte sich hin und ich deckte ihn zu. „Gute Nacht." Ich öffnete schon die Tür, als Robert leise sagte: „Ich hab dich lieb Bruder." Ich drehte mich noch einmal kurz um und sagte: „Ich hab dich auch lieb. Aber jetzt musst du schlafen." Ich ging in mein Zimmer und lief wieder zu der Wand, die mich von Roberts Zimmer trennte. Mein Ohr an die Wand pressend erwartete ich irgendein Geräusch von meinem Bruder zu hören, doch es war still. Daraufhin legte ich mich in mein Bett. Ich schlief sofort ein.
Als ich am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte wartete Tom schon vor der Tür. „Guten Morgen. Ich war so frei und habe auf dich gewartet." Cool. Da war der Schulweg wenigstens nicht mehr so langweilig. Gemeinsam gingen wir zur Schule. Von weitem sah man schon Daniel mit einer Zigarette im Mund. Als er uns auch bemerkte winkte er uns zu sich. „Morgen."
„Morgen", antworteten Tom und ich gemeinsam. „Max denk daran, dass heute Training ist." Er seufzte tief, dann sprach er weiter. „Es ist scheiße, dass Philip gegangen ist. Warum musste sein Vater auch diesen besser bezahlten Beruf bekommen?! Wie sollen wir denn jetzt weiter spielen?" Wieder seufzte er. „Wie wäre es, wenn ich mitspiele?" Irritiert sah Daniel Tom an. Dann wurde sein Gesicht von einem breitem Grinsen überzogen. „Du kannst Fußball spielen?" Er fing an zu lachen. „Wieso nicht. Soll der Neuling es probieren. 16Uhr ist Training auf dem Sportplatz. Komm pünktlich."
„Ich kann erst 16.30Uhr. Vorher komm ich nicht vom Klavierunterricht weg."
„Ach stimmt ja. Der Neuling spielt ja Klavier." Abermals fing er an zu lachen. „Hauptsache du kommst. Also 16.30Uhr!". Plötzlich erklang ein greller Ton. Es klingelte zum Reingehen. Gemeinsam gingen wir in das Schulgebäude. Nach kurzer Zeit klingelte es dann auch schon zum Unterricht. Unsere erste Stunde war Bio mit der Nordstamm. Frau Nordstamm war eine kleine Lehrerin mit einer sehr hohen Stimme. Sie verstand es sehr gut alle Schüler, selbst beim interessantesten Thema, zum Einschlafen zu bringen. Heute hatte ihre Einschlafgeschichte das Thema „Das Herz". Sie zeigte einige Bilder auf dem fast auseinander brechenden Polylux. Dann ertönte ihre hohe Stimme. „Wer kann mir nun etwas über den Bau des Herzens erzählen?" Sie sah sich um. Keiner meldete sich. Dies konnte auch daran gelegen haben, weil dreiviertel der Schüler gar nicht mehr zuhörten. Mit einem Adlerblick überflog Frau Nordstamm alle Schüler bis sie bei Tom stehen blieb. „Sind Sie neu?" Doch reagierte Tom gar nicht. Dieser sah nur verträumt geradeaus. „Ich rede mit Ihnen." Schnell stach ich Tom in seine Rippen. Erschrocken blickte er sich um und sagte „Mitralis!"
„Wie bitte?" Irritiert sah Tom unsere Lehrerin an. „Ähm... nichts. Entschuldigung." Ein leichtes Lächeln kam über den Mund von Frau Nordstamm. Sie hustete kurz und sagte dann: „Wie heißen Sie?"
„Tom."
„Gut Tom. Da Sie mir so interessiert zugehört haben können Sie mir bestimmt den Bau des Herzens erklären." Mit einem siegessicheren Lächeln stand sie da und wartete. Doch zu ihrer Überraschung fing Tom an zu erzählen. „Das Herz, im lateinischen Cor. Es arbeitet wie ein Motor des Blutkreislaufes und ist ein Hohlmuskel. Dass das Blut nur in eine Richtung fließt wird durch die Herzklappen geregelt. Man kann zwei Arten davon unterscheiden. Die erste Art sind die Segelklappen, die zweiten sind die Taschenklappen. Diese tragen dazu bei, dass die nachfolgenden Abschnitte der Blutbahn mit Blut beliefert werden. Die Herzwand besteht hauptsächlich aus Herzmuskelgewebe. Innen ist die Herzinnenhaut, die zweite ist die Muskelschicht und außen wird das Herz von der Herzaußenhaut überzogen. Das Herz besteht außerdem noch aus einem rechten Vorhof, einer rechten Herzkammer, dem linken Vorhof und der linken Herzkammer. Der rechte Vorhof..."
Doch weiter konnte er nichts sagen, da er von Frau Nordstamm unterbrochen wurde. „Das ist ja Wahnsinn. Woher wissen Sie das alles?" Er antwortete nicht. Als die Lehrerin merkte, dass sie wohl keine Antwort bekommen würde sagte sie zu dem Rest der Klasse: „Nehmen Sie sich ein Beispiel an Tom. Er hätte uns bestimmt noch viel mehr über das Herz erzählen können. Doch haben wir heute keine Zeit dafür, denn ich möchte etwas eher Schluss machen. Sie können einpacken." Alle standen auf, begannen zu erzählen und packten ihre Sachen, bevor sie hastig aus dem Bio-Raum eilten. Nur Tom und ich ließen uns Zeit. Als auch wir aus dem Raum waren fragte ich Tom: „Alles OK?" Er sah mich an und nickte. „Du bist so ruhig."
„Jetzt werden sie mich noch eigenartiger finden. Nicht nur das ich Klavier spiele... jetzt kann ich auch noch das Herz in allen Einzelheiten erläutern." Da hatte er Recht. Nur ich wusste, wie es dazu kam. Niemand konnte ahnen, dass seine Schwester ein Herzfehler hatte und daran gestorben war. „Ich habe mich mit den Herzen beschäftigt als..."
„Deine Schwester?" Er nickte stumm. Ich schubste ihn sachte an. „Hey, das wird schon wieder. Wenn wirst du nur als Streber abgestempelt. Es gibt schlimmeres."
Die folgenden Stunden waren sehr langweilig. Tom meldete sich nicht ein Mal. Doch dann hatten wir Musik. Unsere Musiklehrerin hieß Regina. Nein, nicht der Vorname, sondern der Familienname. Wir spielten auf dem Keyboard. Das war auch ein Gebiet, wo ich total unbegabt war. Für mich sahen alle Noten gleich aus. Doch Tom war in seinem Element. Er sah die Noten an und fing an bis zu den Ohren zu grinsen. Wir spielten ein leichtes Stück. Für ihn musste es wohl langweilig gewesen sein, denn er spielte es einmal durch und blieb ohne weiter zu spielen sitzen. Wir anderen übten und übten und übten. Nur Tom saß da und drehte Däumchen. Als dies Frau Regina merkte ging sie zu ihm hin und fragte etwas grimmig: „Was ist los? Zu schwer?"
„Nein... zu langweilig."
„Wie bitte?" Irgendwo aus den letzten Reihen kam dann der Zwischenruf „Der Neue ist doch ein Mozart!". Tom war diese Aussage ziemlich unangenehm, da er anfing auf seiner Unterlippe zu kauen. „Ach, du spielst Klavier?" Er nickte. „Was für Stücke spielst du?"
„Eigentlich alles." Erstaunt fragte die Lehrerin weiter: „Was ist dein Lieblingsstück?"
„Mondscheinsonate", antwortete er kurz. Nun fing unsere Lehrerin an zu strahlen. „Wirklich?! Dann komm mal vor." Tom musste aufstehen und wurde zu dem Klavier geführt. Dann bat sie, er solle ein Stück vorspielen. Auf die Frage welches sie denn hören wolle, antworte sie kurz „Mondscheinsonate". Ich schluckte. Ob er die Mondscheinsonate hier vorspielen würde, nach allem was... Ich wollte gar nicht daran denken, wie alle reagieren würden, wenn er, wie bei sich zu Hause, anfangen würde zu weinen. Nervös wackelte ich auf meinem Stuhl hin und her. „Nein, Mondscheinsonate spiele ich nicht?"
„Warum nicht?", kam es von allen Seiten herbei gerufen. „Ich habe meine Gründe. Ich spiele alles... nur nicht das." Die Lehrerin akzeptierte dies und schlug ihm das Stück „Eine kleine Nachtmusik: Adagio" von Mozart vor. Ohne Widerspruch setzte er sich hin und wollte anfangen zu spielen. Er klimperte kurz auf den Tasten, dann hörte er plötzlich auf. „Wann wurde es das letzte Mal gestimmt?"
„Ähm..." Nun lief die Lehrerin rot an. „Naja ... ist nicht so schlimm. Kann ich anfangen zu spielen?" Sie nickte (immer noch rot) und die ganze Klasse wurde still. Tom legte sich die Noten zurecht und fing an zu spielen. Zwar mochte ich Klavierstücke nicht, aber irgendetwas an der Art und Weise wie er es spielte war faszinierend. Er schien das Stück auswendig zu kennen, denn er sah die Noten nicht einmal an... wie sollte er auch mit geschlossenen Augen. Wie in Trance wippte sein Körper nach dem Takt der Musik nach vorne. Seine Finger berührten fast zart die Tasten des Klaviers. Ein himmelweiter Unterschied zu der Prügelei, die unsere Musiklehrerin mit dem Klavier veranstaltete. Erst jetzt bemerkte ich, dass niemand etwas sagte. Die ganze Klasse lauschte den Klängen des Klaviers und diese Situation war sehr selten. Nicht nur, dass jemand so Klavier spielte... nein, eher die Tatsache, dass niemand etwas sagte. Sogar Daniel war ruhig. Ich sah mich in der Klasse um. Besonders beobachtete ich die Mädchen. Diese sahen verträumt und mit glänzenden Augen Tom an. Alle außer Marie. Marie nämlich hatte, wie Tom, ihre Augen geschlossen. Sie holte ein paar Mal tief Luft und es wirkte so, als ob sie das Stück in sich aufsog. Ich bekam Gänsehaut. Ja, nun war ich mir sicher. Ich war in Marie verliebt. Am liebsten wäre ich im gleichen Moment zu ihr hingegangen und hätte sie in den Arm genommen, jedoch hielt ich das für verfrüht. Stattdessen beobachtete ich sie lieber, wie sie ihre kurzen schwarzen Haare aus ihrem Gesicht strich und wieder tief Luft holte. Plötzlich öffnete sie ihre Augen. Was war geschehen? Verwirrt sah ich mich um. Ich bemerkte, dass das Stück zu Ende war. Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis das auch die Anderen richtig wahrnahmen. Tom stand auf und ging in Richtung seines Platzes. Als er an Maries Bank vorbei lief blieb er plötzlich stehen. Tom drehte sich zu ihr um und sie gab ihm etwas in seine Hand. Das ging so schnell, dass ich es fast gar nicht mitbekommen hätte, hätte ich Marie nicht beobachtet. Er ging ohne eine Miene zu verziehen weiter, setzte sich hin und wartete. Blitzartig war auf einmal die Lehrerin neben ihm und redete auf ihn ein, wie toll er dieses Stück gespielt hatte. Sie habe wohl dieses Stück noch nie besser gehört, so meinte sie. Tom entgegnete ihr darauf nur: „Schön, dass es Ihnen gefallen hat." „Oh ja. Es war sehr schön. Doch es schien nicht nur mir gefallen zu haben, denn die ganze Klasse war ruhig." Ein leises Murmeln durchzog nun die ganzen Schüler. Frohen Herzens setzte sich die Lehrerin wieder auf ihren Stuhl am Lehrertisch. Dann sagte sie: „Das war es für heute. Ihr könnt gehen." Die Schüler sprangen freudig auf und stürmten aus dem Musikraum. Als Tom und ich den Raum verlassen wollten rief uns Frau Regina zu sich nach vorne. Sie sah Tom tief in die Augen und fragte: „Darf ich dich etwas fragen?" Er nickte. „Für wen hast du dieses Stück gespielt?" Tom sah sie erstaunt an. „Woher...?" Sie lächelte. „Ich habe das im Gefühl. Du hast so mit Herz gespielt." Er schluckte, gab ihr aber keine Antwort. Wieder lächelte die Lehrerin. „Ich verstehe. Ich hoffe, dass diese Person dir genau solche Gefühle entgegenbringt, wie du ihr. Du darfst gehen." Nun drehte sie sich zu mir um. „Max versprich mir etwas. Versprich, dass du aufpasst, dass niemand diesen Händen etwas zu leide tut." Irritiert sah ich sie an. „Versprochen." Dann nickte sie zufrieden und schickte uns aus dem Raum. Da Musik unsere letzte Stunde war, konnte ich nach Hause gehen. Tom ging gleich zum Klavierunterricht und wollte danach zum Training kommen. Ich war gespannt, was er drauf hatte.
Es war schon nach 16.30Uhr, als Tom endlich kam. Er hatte sein Sportanzug an und kam zu uns aufs Spielfeld gerannt. „Hey Mozart! Du kommst zu spät!"
„Tut mir leid... der Bus hatte Verspätung..." Doch Daniel winkte nur ab und sagte: „Ist mir scheiß egal! Los. 5 Aufwärmrunden." Und Tom begann seine Runden abzulaufen. Ich ging zu Daniel und sagte leise: „Das ist doch fies... wir rennen sogar nur 2 Runden, weil der Platz so groß ist."
„Mozart wird es schon nicht stören." Er grinste und ging zu den anderen. Nach 8 Minuten war Tom fertig mit rennen. Doch es war bei ihm keine Art von körperlicher Anstrengung zu erkennen. Ohne zu schnaufen ging er zum Teamchef. Dieser, ziemlich überrascht dass Tom schon fertig war, sah ihn mit einem etwas schrägen Blick an. „Schon fertig?" Tom nickte. „Willst du mich verarschen Mozart?"
„Nein warum sollte ich Christoph?" Irritiert sah Daniel ihn an. „Ich heiße nicht Christoph."
„Na und, ich heiße auch nicht Mozart." Daniel lächelte. Doch dieses Lächeln verbarg einen immensen Zorn. Man merkte richtig das Knistern zwischen den beiden. Irgendwann würde es bei den zweien zu heftigen Auseinandersetzungen kommen. Doch noch beherrschten Daniel und Tom sich. Aber der Kampf würde kommen... so sicher wie das Amen in der Kirche. Nach etlichen bösen Blicken begann Daniel endlich das Training. Wir sollten uns zu Paaren aufstellen und versuchen unser Gegenüber den Ball abzunehmen. Wie zu erwarten kämpfte Daniel gegen Tom. „Ich werde es dir nicht leicht machen."
„Wäre ja noch schöner!" Ein Pfiff und es ging los. Die Beiden kämpften vom ersten Moment an mit voller Power. Mal hatte Daniel den Ball, da kam auch schon Tom und nahm ihm mit einer spitzen Geschwindigkeit den Ball ab. Dieses Hin und Her ging etwa 2 Stunden. Es wurde schon langsam dunkel als ich zu den Beiden hinging und den Kampf einfach beendete. Schnaufend setzten sich Daniel und Tom ins Gras. Schweiß lief ihnen am ganzen Körper runter. Daniel sah Tom grimmig an und meinte: „Wo hast du gelernt so zu spielen? In welcher Mannschaft warst du?" Schnaufend sagte Tom dann: „Ich habe noch nie in einer Fußballmannschaft gespielt. Fußball war eher nur ein Hobby. Aber du bist wirklich gut. Ich hätte nie gedacht, dass du solange durchhältst. Ich wusste, dass du für kurze Zeit sehr gut spielen kannst, aber ich dachte, dass ich dich in einem längeren Zeitraum fertig machen kann." Zu meiner Überraschung nickte Daniel schnaufend. „Ja, da ist wirklich meine Schwachstelle. Woher weißt du das?"
„Nun... ich habe euch an dem Wochenende beobachtet, wo ich hergezogen bin. Nicht lange... nur 10 Minuten. Da ist mir aufgefallen, dass du in kurzen Kämpfen den Ball sofort abnehmen kannst. Bei längeren Kämpfen aber musste dir immer jemand helfen, weil du keine Kraft mehr hattest."
„Hey... du bist mir unheimlich. Aber du hast recht. Ich gebe immer gleich am Anfang volle Power und habe danach keine Energie mehr. Das ist mein Fehler und den habe ich beim letzten Spiel bemerkt, deshalb habe ich meine Strategie heute geändert. Wieso hast du so viel Ausdauer?"
„Ich war Kapitän einer Basketballmannschaft. OK... wir waren nicht gut, aber Ausdauer hatten wir." Ein kurzes Schweigen trat ein, aber wohl auch nur, weil sie eine Atempause brauchten. Daniel fing an zu lächeln und fragte dann nach wenigen Sekunden: „Willst du Stürmer bei uns sein? Du hast Ausdauer und kannst gut mit dem Ball umgehen." Tom überlegte kurz und sagte dann: „Gern. Aber ich werde manchmal ein bisschen später kommen."
„Ist nicht schlimm. Aber auch wenn du in meiner Mannschaft bist, werde ich dich trotzdem weiterhin Mozart nennen, da du wirklich gut Klavier spielst." Tom sah ihn verblüfft an und grinste. „Hey. Nicht das du auf falsche Gedanken kommst. Ich mag kein Klavier." Tom stand auf und grinste immer noch. „Ehrlich. Ich mag kein Klavier." So ging es noch eine ganze Weile. Plötzlich drehte sich Daniel um. „Wo sind denn alle?"
„Sind alle nach Hause. Es war ihnen zu langweilig euch zuzuschauen. Ich war der Einzige, der wissen wollte, wie es ausgeht. Den Rest soll ich morgen informieren." Nun verfinsterte sich Daniels Blick wieder. „Faulpelze!" Da es nun doch ziemlich spät geworden war beschlossen wir das „Training" zu beenden und nach Hause zu gehen. Daniel verabschiedete sich und ging an einer Kreuzung nach links in die Mühlhauser-Straße, Tom und ich gingen in unsere. Da stand ich wieder vor Toms Haus. „Willst du reinkommen? Heut ist keiner da... außer der Katze." Er lachte verlegen. „Tut mir leid...", entgegnete ich ihm „...aber ich muss nach Hause. Wenn du willst kannst du zu mir kommen. Mein Vater und mein Bruder sind zwar da, aber die werden schon nicht stören." Er nickte und wir gingen zu mir. An der Eingangstür angekommen hörte man schon Stimmen. Die eine war mein Vater, die andere mein Bruder. Jedoch war die Stimme meines Vaters um einiges lauter, als die meines Bruders. Plötzlich erklang ein Geräusch, dass sich verdächtig nach etwas anhörte, was gerade zerbrochen war. „Scheiße!" Ich rannte rein. Was war diesmal geschehen? War Vater wieder mal ausgerastet und hatte aus Wut etwas zerbrochen oder war Robert derjenige, der dies getan hatte? Ohne weiter darüber nachdenken zu wollen, rannte ich in die Richtung, woher die Stimmen kamen, die Küche. Als ich sie erreicht hatte sah ich ein chaotisches Bild vor mir. „Mein Gott... Wie sieht denn die Küche aus?" Vater und Robert drehten sich zu mir um. „Oh Max. Schon da?" Wütend sah ich die Beiden an. „Was ist hier los? Euch hört man schon an der Eingangstür und was zum Teufel ist hier zerbrochen?" Als ob die Zwei es nicht bemerkt hätten sahen sie sich um. „Oh... das meinst du.", sagte daraufhin mein Vater. „Wir haben gekocht und dabei ist mir die Ketchup-Flasche hinuntergefallen. Ich hab mich erschrocken und geschimpft, warum zum Teufel diese verdammte Flasche vor dem Pfeffer stehen muss." Skeptisch sah ich sie an. „Wollt ihr mich verarschen? Ihr habt euch doch gegenseitig beschimpft." Diesmal fing mein Bruder an etwas zu erzählen. „Nein Max. Ehrlich nicht. Ich habe mich auch erschrocken und als ich das ganze Rot gesehen habe, da dachte ich, dass Vater verletzt ist." Ich glaubte ihnen kein Wort. „Aber ihr habt doch schon vorher gebrüllt, bevor das zerbrochen ist. Leugnet es nicht. Ich hab es genau gehört." Vorwurfsvoll zeigte ich mit meinem Finger mal auf Vater und mal auf Robert.
„Ähm... wir haben nicht gebrüllt... ähm..." Auf einmal tippte mich jemand von hinten an die Schulter. Es war Tom, den ich in der ganzen Aufregung völlig vergessen hatte. Er wirkte etwas nervös und das konnte ich verstehen bei diesem ganzen Tumult. Ich schob ihn vor mich hin, sodass mein Vater und mein Bruder in gut sehen konnten. „Das ist Tom. Ein Freund von mir. Wir hatten Fußballtraining und ich habe ihn zum Essen eingeladen." Tom gab beiden die Hand. „Guten Tag. Ähm.. Entschuldigung, dass ich es sage, aber ihr Ofen dampft." Blitzschnell brach die totale Hektik aus. „Der Auflauf!" Doch es war zu spät. In einer kurzen Schweigeminute verabschiedeten wir uns von dem verbrannten Auflauf und schmissen ihn in den Mülleimer. Enttäuscht saßen wir mit knurrendem Magen am Tisch. „Und was jetzt? Wir haben nichts mehr da. Nur noch ein paar Reste.", sagte Robert leise vor sich hin. Tom sah mich groß an. Es wirkte so, als ob er etwas sagen wollte und es sich nicht traute zu erzählen. „Was ist los Tom?" Sein Blick erhellte sich. Es schien ihn zu freuen, dass ich anscheinend seine Gedanken lesen konnte. „Wenn es niemanden stört würde ich gern etwas kochen. Aber dazu müsste ich mich aber etwas umsehen." Vater sagte zu ihm, ohne Tom dabei anzusehen, dass dies OK sei. Tom stand auf und ging zum Kühlschrank. Er inspizierte den Inhalt und schloss die Kühlschranktür wieder. Dann ging er zu den anderen Schränken und begutachtete nach und nach den Rest. Nach ca. zehn Minuten sah er uns zufrieden an. „Da kann ich was machen. Darf ich es probieren?" Natürlich nickten alle. Tom legte alle Sachen zurecht, die er zum kochen brauchte und bat uns dann die Küche zu verlassen. Träge standen wir auf und gingen raus. In der Stube sitzend fragten wir uns, was er wohl kochen würde. „Ich mag keine Fremden in der Küche. Kann er wenigstens kochen?" Ich zuckte nur mit den Schultern. Nach einer halben Stunde kroch uns schon ein leckerer Duft unter die Nase. Wonach es genau roch wussten wir nicht genau. Jedenfalls musste es etwas leckeres sein, so wie unser Magen auf den Duft knurrend reagierte. Nach anderthalb Stunde wurden wir gerufen. Ein ordentlich gedeckter Tisch sprang uns regelrecht ins Auge. Die ganze Küche war sauber, aber vom Essen war keine Spur. „Setzt euch." Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Neugierig und sehr hungrig sahen wir Tom an. Was würde er wohl bringen?
Ich hatte noch nie so viel gegessen wie an diesem Tag. Es gab sowohl Vorspeise, als auch Hauptmenü und Nachtisch. Die Vorspeise war eine Gemüsesuppe (...ich wunderte mich, dass wir so etwas Gesundes in unserem Haus hatten...), das Hauptgericht ein Kartoffelauflauf und zum Dessert ein Eis mit viel Sahne, Gummibärchen und anscheinend, dass ganze andere Süße, was wir im Haus hatten - und es war echt lecker. Wir hauten alle rein und waren danach bestimmt drei Kilo schwerer.
„Ich bedanke mich und muss auch langsam nach Hause." Frappiert guckte ich Tom an. „Du willst schon gehen?" Er nickte. „Ja. Es ist schon spät und ich will dieses...Familientreffen... nicht stören." Familientreffen... dieses Wort sagte er irgendwie gequält. „Äh.... Wenn du willst kannst du auch hier pennen. Bei dir ist doch sowieso niemand da, oder?" Tom überlegte und nickte schließlich. „Ja. Wenn dich das nicht stört bleibe ich gern. Ich muss nur noch Bescheid sagen." Bevor ich Tom kennen gelernt hatte, wäre mir dieser Satz sehr ... nun... verweichlicht vorgekommen. Doch nun überhaupt nicht mehr. Es wirkte eher erwachsen.
Seine Mutter schien regelrecht froh darüber zu sein, dass er bei mir übernachten wollte, da sie ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie schon wieder nicht zu Hause war. Tom meinte zwar, dass sie sich darüber keine Gedanken machen solle, aber so waren Mütter nun einmal. Als er mein Zimmer betrat sah er sich um. Was er wohl dachte? Verglich er mein Zimmer mit seinem? Ich versuchte meine 4 Wände mit seinen Augen zu sehen. Himmel. Meine Sachen von gestern lagen neben dem Bett, der Kaktus war vertrocknet, der Fußball war voller Schlamm und über dem Apfel, den mir meine Mutter vor Tagen vorbei gebracht hatte („Junge, du musst auch mal was gesundes Essen!") flogen so Mini-Mini-Fliegen. Hier herrschte das reinste Chaos. Nun bereute ich den Vorschlag ihn hier schlafen zu lassen. Er fühlte sich bestimmt nicht wohl hier. Ich hatte mir noch nie darüber Gedanken gemacht, ob jemand nur ungern hier war. Schließlich hatte ich bisher von meinen ganzen Freunden das sauberste Zimmer... Tom grinste und haute sich aufs Sofa. „Ähm... es ist nicht so aufgeräumt." Tom winkte ab. „Ich find's gut. Bist du halt." War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung? Ich holte 2 Tüten Chips aus dem Schrank und warf ihm eine zu. „Bier?" Überrascht sah er mich an. „Du hast Bier hier?" Ich zuckte mit den Schultern. Besser man hat als man hätte. „Willst du nun eins?" Tom nickte. Gekonnt öffnete er den Deckel mit der Fernbedingung auf dem Tisch. Er nahm mir mein Bier aus der Hand und tat mit dieser Flasche das Selbe, bevor er es mir wieder gab. Ich grinste. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
Wir zappten zwischen Serien und Dokus hin und her. Obwohl wir uns nicht viel unterhielten, fühlte ich mich wohl. Er hatte eine beruhigende Ausstrahlung. Das Kontrastprogramm zu mir. Es war eigenartig, aber irgendwie hatte ich das Gefühl wir würden uns schon viel länger kennen. Oh man. Ich sollte nicht so viele Serien mit meiner Mutter zusammen anschauen. Ich bekam schon komische Gedanken.
„Warum hast du vorhin gedacht, dass dein Vater und dein Bruder sich streiten?" Ich begann am Etikett meines Biers zu spielen. „Naja...mein Vater kann sehr...wütend werden." Ich schloss die Augen um mich zu sammeln. Tom schien die Luft anzuhalten, denn kein Ton war zu hören. „Er achtet sehr auf den äußeren Schein. Und zu einem perfekten äußeren Schein gehören perfekte Kinder. Das Problem ist nur, dass wir nicht perfekt sind. Weder Robert noch ich..." Ich erzählte ihm von den vielen Schlägen, meine Versuche mich zu wehren und wie ich schließlich regelrecht vor zu Hause floh. „Als ich letztens von dir nach Hause kam, bin ich zum ersten Mal zu meinem Bruder gegangen, als er geweint hat. Es ist komplettes Neuland für mich. Robert war auch ziemlich verdutzt." Ich musste lächeln. „Doch...ich werde für ihn da sein. Ich bin 17, fast volljährig und kann auf mich allein aufpassen. Aber Robert braucht jemanden, der ihn beschützt." Tom schluckte hart. Er kaute an seiner Unterlippe. „Was ist los? Alles okay? Du heulst jetzt nicht, oder so?!" Da kam plötzlich ein Kissen angeflogen und traf mich unvorbereitet ins Gesicht. „Blödmann." Ich zuckte mit der Schulter. So schlimm war das alles doch gar nicht. Aber wenigstens lächelte Tom schon wieder. Er machte mich fertig. Ich kannte keinen Jungen, der seine Emotionen so frei heraus zeigte. Es irritierte mich. „Ab jetzt bin ich für dich da. Okay? Wenn irgendwas ist oder ich dir helfen kann. Ich bin da. Versprochen." Ich musste mehrmals zwinkern, eh ich das verarbeitet hatte und nickte einfach bedeppert. „Was ist los? Du schaust mich so komisch an." Tom wischte seine Hände an seiner Hose ab und beobachtete mich unentwegt. „Du...ich weiß auch nicht. Du bist so direkt und drückst deine...Gefühle...so klar aus. Das ist...keine Ahnung. Normalerweise machen das immer nur die Mädchen." Und schwupps war es raus. Ich wollte es gar nicht so ausdrücken. Schnell wollte ich rumrudern, doch ich sah, wie sich sein Blick verdunkelte. „Tut mir leid. Ich versuche nicht mehr so direkt zu sein", sagte er schnippisch und sah zum Fernseher. Verdammt! So wollte ich es gar nicht ausdrücken. Ich seufzte. „Hey...so war das gar nicht gemeint. Ich bin das nur nicht gewohnt. Normalerweise..." Ich rang nach Worten. Doch bevor ich weitersprechen konnte drehte sich Tom mit funkelnden Augen zu mir. „Was normalerweise? Normalerweise spielen Jungs kein Klavier? Normalerweise heulen Kerle nicht so oft? Normalerweise reden Männer nicht über ihre Gefühle? Ist es das?" Die letzte Frage spie er mir regelrecht ins Gesicht und ich konnte nichts Intelligenteres machen als erneut mit der Schulter zu zucken. Das schien ihn aber noch wütender zu machen. „Jetzt informiere ich dich mal über was. Normalerweise heule ich auch nicht so oft. Und Gefühle drücke ich nur über das Klavier aus. Doch..." Er stockte. Rang nach Worten. „Doch bei dir ist es was anderes...Ich weiß auch nicht warum. Du löst bei mir die unterschiedlichsten Emotionen aus. Das macht mich fertig. Ich bin normalerweise nicht so.", entgegnete er etwas leiser. Ich sinnierte über die letzten Tage. Wie war er da? Ruhig. Beobachtend. Er hatte Daniel Paroli geboten und das schafften nur wenige. Zeigte er Emotionen? Halt wie jeder andere Kerl. So wie ich. Warum reagierte er dann bei mir so empfindlich? Meine Gehirnwindungen fingen an sich zu verknoten und ich seufzte. „Hör zu...das war nicht so gemeint. Vergessen wir es einfach, okay? Es ist auch schon spät. Lass uns pennen." Er nickte, stand auf und streckte sich. „Hast du ein T-Shirt für mich?" Klar. Naja...so klar war es dann doch nicht. Der Kerl war verdammt groß und hatte verdammt breite Schultern. Oder ich war frustrierend klein. Mein längstes Shirt ging ihn bis zum Bauchnabel. Nachdem ich das 5. Shirt auf den Boden geschmissen hatte und frustriert schnaubte, bekam er einen Lachflash. „Dann schlaf ohne. Wirst schon nicht erfrieren." Genervt zog ich mich um und legte mich ins Bett. „Schnarchst du?" Er schüttelte mit dem Kopf und grinste. „Knirscht du mit den Zähnen? Das kann ich gar nicht leiden." Wieder verneinte er. „Und wehe du klaust mir die Decke. Als Daniel das letzte Mal hier gepennt hat und ich wegen ihm keine Decke mehr hatte, lag er vor dem Bett - nachdem ich ihn raus getreten hatte. Und hör auf zu grinsen sonst schläfst du gleich vor dem Bett. ALTER! WARUM LACHST DU DA?" Tom hielt sich schon den Bauch vor Lachen. „Du klingst wie meine Freundin. Mit ihr hab ich auch immer das Gespräch." Ich funkelte ihn böse an, wickelte mich in meine Decke und schmollte. So ein Arsch. Er legte sich neben mich und rollte sich in seine Decke. Als er Nacht sagte, hörte ich sein Grinsen immer noch. Blödmann.
Als ich aufwachte war mir unglaublich warm. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, wo ich mich befand. Es war viel zu eng, viel zu dunkel und definitiv viel zu warm. Tom streckte sich, die Decke rutschte etwas runter und in dem Moment wurde es heller. Scheiße! Ich musste so an ihn heran gerutscht sein, dass mein Gesicht auf seinem Brustkorb und die Decke über mir lag. Doch je mehr ich versuchte weg zu kommen, desto enger schien alles zu werden. Was war denn hier los? Ich war total zwischen Tom und Decke verknotet. Nun war er auch wach und sah mich mit zerzausten Haaren an. Seine Wangen waren leicht gerötet und seine Augen wirkten leicht glasig. Ich versuchte wieder aus dieser Zwangslage zu entkommen. „Aua! Jetzt zappel doch mal nicht so rum. Sonst wird das nie was.", sagte er gepresst. Warum war ich ihm so nah? Sein ganzer Körper schien zu glühen und hatte mich gleich mit aufgeheizt. Es war warm. Er war warm. Mir war warm. Ich musste hier raus. „Maximilian!" Er griff meine Arme und drehte mich mit einem Schwung um, sodass er mit funkelndem Blick auf mir lag und mich regelrecht fixierte. Er atmete tief durch. „Wenn du mich noch einmal trittst hau ich dir eine rein." Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht und schluckte. Mein Mund war plötzlich staubtrocken und meine ganze Panik war verpufft. Ich lag da wie ein Schluck Wasser und sah ihn an. „Du hast extrem unruhig geschlafen und wie wild mit den Beinen gestrampelt. Wusstest du eigentlich, dass du im Schlaf redest?" Ich lief rot an. Nein. Das hatte mir noch niemand gesagt. Bisher meinten immer alle, dass ich wie ein Toter liegen würde. „Du hast deine Decke weg gestrampelt und angefangen mich zu treten und zu schlagen. Das war echt nicht mehr lustig. Wer ist Arno? Den Namen hast du immer wieder gesagt." Arno...mein Vater. Ich hatte im Schlaf von meinem Vater geträumt. Jetzt wo er es sagte, fiel es mir wieder ein. Mein Vater hatte mich an den Füßen gepackt und wollte mich kopfüber an den Beinen aufhängen und in einen See tauchen... Ich schüttelte den Kopf um meinen Traum zu verscheuchen. „Jedenfalls habe ich dich versucht zu wecken, klappte aber nicht. Erst als ich es geschafft habe deine Arme zu greifen und dich regelrecht niederzuringen und zu fixieren hast du dich beruhigt. Dann habe ich dich los gelassen und du hast geschlafen. Ich bin dann auch eingepennt bis du plötzlich zu mir ran gerutscht bist und meine Decke über uns gelegt hast. Ich war ein bisschen überrumpelt..." Er grinste als ich rot wurde. „...aber dann hast du endlich mal ruhig geschlafen und ich auch. Gefühlte 10Minuten später wache ich dann auf, weil du mir dein Knie in meine Kronjuwelen trittst." Er klang etwas verstimmt, lachte dann jedoch auf. „Meine Güte. Du musst nicht gleich rot werden." Aber das wurde ich. Und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Die ganze Situation war so untypisch für mich. Doch Tom grinste nur vor sich hin. Ihn schien das köstlich zu amüsieren. „Ist das jetzt geklärt?" Ich nickte. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt und mir war seine Nähe plötzlich unglaublich bewusst. Mein Herz schlug unerwartet schneller und ich schluckte. Auch Toms Blick änderte sich, wurde dunkler. Er räusperte sich und half mir hoch. Dann lachte er über mein bedeppertes Gesicht, doch sein Grinsen erreichte in diesem Moment seine Augen nicht. „Wenn du das nächste Mal kuscheln willst, musst du mich vorher aber nicht verprügeln, okay?" Bevor ich nach ihm schlagen konnte sprang er zur Seite und lachte sich schlapp und auch ich musste anfangen zu lachen.
Tom grinste noch als wir zur Küche gingen um uns Frühstück zu machen. Es war erst 5.30Uhr - also noch viel Zeit, ehe die Schule begann. „Setz dich. Kaffee?" Ich nickte. Wie konnte man nur früh am Morgen solchen Elan haben? Tom war wieder in seinem Element. Er kochte Kaffee, backte die Brötchen auf und machte sogar Rührei. Irgendwie fühlte ich mich wie Weihnachten. Genüsslich trank ich meinen Kaffee. „Du kannst öfters bei mir übernachten. Wenn das jeden Morgen so wird." Er legte mir noch ein Brötchen auf den Teller und lächelte. „Nach deiner Fummelei gestern Nacht brauch ich was Anständiges zu Essen." Wieder lief ich rot an und wollte gerade etwas kontern als meine Mutter schlaftrunken in die Küche kam. „Ich rieche Kaffee." Sie begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange. „Du bist ja ganz gerötet?! Hast du Fieber?" Dann küsste sie mich auf die Stirn. „Nein. Fieber hast du nicht." Genervt schob ich sie von mir weg. „Mam...das ist peinlich. Was soll den Tom denken?!" Und erst da schien sie zu bemerken, dass noch jemand im Raum war. Verlegen lächelte sie und begrüßte ihn. „Haben wir dir den frischen Kaffeeduft zu verdanken? Nach einer anstrengenden Spätschicht ist das beste Aufwachmittel" Er lächelte und nickte. Vorsichtig nippte er an seiner Kaffeetasse. „Du solltest öfters hier schlafen. Wenn das jeden Morgen so wird stehe ich vielleicht mal gern auf." Tom grinste über seiner Kaffeetasse hinweg meine Mutter an. „Max hat fast das Selbe gesagt. Ich hab ihm schon gesagt, dass ich gern wieder hier schlafe, wenn die Basis stimmt." Er musterte mich vergnügt und ich errötete prompt, da ich wusste, was er mit „Basis" meinte. Der Arsch. Das hatte ich ja nicht absichtlich gemacht. Tom schien die ganze Situation köstlich zu amüsieren. Hatte wenigstens einer Spaß. Ich nippte an meinem Kaffee und sah, dass meine Mutter mich beobachtete. „Was ist denn?" Als ob sie sich erwischt fühlte setzte sie sich kerzengerade hin. „Ähm...nichts. Es ist nur...es ist das erste Mal, dass ich dich erröten sehe." Na toll. Anscheinend löste Tom auch bei mir Emotionen aus, die sonst für mich untypisch waren. Ich sah ihn an. Sein Blick ruhte auf mir und er musterte mich so intensiv, dass ich unruhig auf meinen Platz hin und her rutschte.
Ein komischer Start in den Tag...