Du bist Brenna Sundergeer.
Gegen Mittag ist es soweit: Nachdem ihr euch ein letztes Mal versichert habt, dass eure Pferde für die nächsten Wochen gut versorgt sein werden, überquert ihr auf einer schmalen, rutschigen Planke den Abstand vom Steg zum Schiff. Es ist nicht deine erste Schiffsreise, doch das erste Mal, dass du dich auf die Mondsee begibst. Du passt deine Schritte dem unter dir schwankenden Deck an.
Auf dem Schiff herrscht geordnete, ruhige Betriebsamkeit. Nur der Kapitän stört das Bild, der die Arbeiter laut brüllend zur Eile antreibt, damit die letzten Kisten verladen werden.
„Halt, nein, die Wolle muss dahin! Ihr könnt doch keine Schafwolle neben Seide lagern, ihr Idioten!“ Solche und ähnliche Sätze schallen über das Schiff. Ihr drei steht etwas verloren am Rand und bemüht euch, nicht im Weg zu sein. Schließlich wird die Planke eingeholt und der Kapitän kommt zu euch. Er wirkt nun, da alles in Aufbruchstimmung ist, ruhiger. Er gibt Allyster die Hand, dir einen Handkuss und reicht auch Aji die Hand, der sie zögerlich ergreift.
Dann streicht der Händler sein Hemd glatt und wendet sich Allyster zu: „Habt ihr das Geld?“
Allyster nickt und händigt dem Mann mit fast perfekt verborgenem Widerwillen einen Geldbeutel aus. „Ihr könnt es nachzählen: Es ist die Zahlung für die nächste Woche.“
Der Händler inspiziert den Beutel kurz, dann lächelt er euch an. „Willkommen an Bord der Wellenadler! Ich zeige euch eure Quartiere. Ihr dürft euch auf meinem Schiff frei bewegen, jedoch bitte ich euch, nicht in die Frachträume zu gehen. Manche meiner Waren sind empfindlich.“
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Die Kabinen, die euch zugeteilt wurden, bezeichnet der Kapitän entschuldigend als „Kammern“. Tatsächlich sind die Zimmer schmal und eng, doch es gibt richtige Betten, mit Federn gefüllte Kissen und Decken, eine hübsch verzierte Kerzenlampe mit buntem Glas, Teppichboden, Schränke aus Mangoholz und ein Bullaugenfenster. Decke und Wände sind dunkelrot getäfelt, die unterschiedlichen Holztöne harmonieren wunderbar miteinander.
Der Kapitän überlässt euch euch selbst. Du befüllst den Schrank mit deinen wenigen Habseligkeiten: Wechselkleidung, Waffen und einige persönliche Dinge. Ein weiteres Mal überprüfst du deinen Verband. Deine Wunde heilt ausgezeichnet, nicht zuletzt dank Allysters Heilwissen.
Bald trittst du wieder auf den schmalen Gang vor den Zimmern. Inzwischen stampft das Schiff heftig, ihr müsst den Hafen verlassen haben. Da Allyster vermutlich die nächsten drei Tage keinen Fuß vor die Tür setzen wird, sondern mit einem Eimer kuschelt, gehst du zu Ajis Zimmer. Der Junge sitzt auf dem viel zu großen Bett und hüpft leicht, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht. Obwohl seine Haare nun brombeerfarben sind und seine Augen pink leuchten, hat sich sonst nichts verändert.
„Na? Gefällt es dir?“, fragst du freundlich und Aji nickt mit einem breiten Lächeln. „Ich will ein wenig an Deck gehen. Du kannst mitkommen“, bietest du ihm an, doch Aji schüttelt den Kopf und streicht sich durch die lila Locken.
„Später.“
Du nickst. Aji wird mit seinen Haaren ein Sonderling an Bord sein, da kann man ihm ruhig noch etwas Zeit lassen, bevor er von allen angestarrt wird.
Du verlässt den Bauch des Schiffes und gehst eine schmale Treppe hinauf, die dich auf das sonnenüberflutete Deck führt. Ein paar Matrosen laufen hin und her, eine kleine Armee blasser Jungen putzt das Deck, das bereits wie Gold schimmert. Der Wind geht ruhig, aber kräftig, die See ist vergleichsweise still.
Du trittst an die Reling heran, stützt die Arme auf und siehst auf den blauen Wellenteppich vor dir, auf dem sich das Sonnenlicht bricht. Das Schiff stampft in einem gemächlichen Rhythmus dahin, Richtung Mittsee. Du hältst die Nase in die salzige Luft und atmest tief durch. Was für ein herrlicher Tag!
Du wendest dich um, als du Schritte auf dem Deck hinter dir hörst. Es ist der Händler, der mit einem sanften Lächeln zu dir tritt.
„Störe ich?“, fragt er.
„Keineswegs.“ Du lehnst dich mit dem Rücken an die Reling und lässt dir die Sonne ins Gesicht scheinen.
Der Kapitän tritt neben dich und stützt, wie du kurz zuvor, die Arme auf das Holz.
„Ihr wirkt vertraut mit der See“, beginnt er ein Gespräch.
„Ich bin häufiger auf Schiffen unterwegs“, antwortest du. „Ich habe das halbe Graumeer besegelt.“
„Und die Mondsee?“
„Noch nie.“ Du siehst den Kapitän an. Er lächelt zurück und offenbart blitzendweiße Zähne. Er kann nur ein mittelständischer Händler sein, wenn er Graufels anfährt, doch sein Gebaren ähnelt einem Lord.
„Das Graumeer soll ein unwirtlicher Ort sein“, fährt er fort. „Was führte eine Dame wie Ihr es seid auf jene Gewässer?“
Du lachst. „Mein Herr, ich bin keine Dame! Ich bin Söldnerin. Ich habe den Seefahreraufstand niedergeschlagen.“
Der Händler mimt den Beeindruckten. „Ein stolzes, wildes Geschäft. Trotzdem würde ich Euch raten, diese Geschichten in Mittsee nicht zum Besten zu geben. Die Piraten hier fühlen sich den aufständischen Seefahrern verbunden.“
Du seufzt. „Ich habe auch eine gewisse Zeit auf ihrer Seite gekämpft. Doch ihnen wurden die Handelsmöglichkeiten abgeschnitten und der Baron konnte den besseren Preis bieten. Das Leben eines Söldners ist selten ruhmreich.“
Du spürst den Blick des Händlers auf dir. „Es scheint, Ihr habt viele Geschichten zu erzählen. Ich würde sie nur zu gerne hören – was haltet Ihr davon, heute Abend mit mir in der Kapitänskajüte zu speisen? Eure Begleiter sind selbstredend ebenfalls willkommen. Der geheimnisvolle Junge, der sein Gesicht nicht zeigt, muss natürlich nicht kommen, falls er nicht will.“
„Ich werde das Angebot weiter geben“, sagst du. „Ich denke, Aji und Allyster werden gerne kommen. Der ,geheimnisvolle Junge‘ mag etwas sonderbar aussehen, doch zu verbergen haben wir nichts.“
„Bei den Göttern der See, das habe ich niemals unterstellt!“, meint der Kapitän. „Ich wollte Euch sämtliche Freiheiten lassen.“
Du lächelst ihn an. „Das war gütig von Euch. Seid versichert, dass ich es nicht als Unterstellung aufgefasst habe!“
Nach einigen letzten, freundlichen Worten entschuldigt sich der Kapitän damit, dass er seine Aufgaben an Bord zu erfüllen hätte. Du bleibst jedoch nicht lange allein, da Allyster neben dich tritt.
„Perfekte Formulierungen, Brenna. Ich bin begeistert.“
„Hast du etwa gelauscht?“, fragst du, ohne den Zauberer anzusehen.
„Ich kam an Deck, sah euch plaudern und wollte nicht stören“, erwidert Allyster.
„Und? Gehen wir zum Abendessen hin?“, fragst du.
„Natürlich. Der Kapitän bekommt das beste Essen der Mannschaft. Es wäre eine Schande, diese Einladung auszuschlagen!“ Er seufzt wehmütig. „Selbst, wenn es nach mir vermutlich die Fische bekommen werden.“
„Du schlägst dich gut.“
Allyster schenkt dir ein schwaches Lächeln. Seine dunkle Haus ist um die Nase etwas blasse geworden, aber er ist auf den Beinen und an Deck.
Du seufzt. „Ein weiterer Abend falscher Freundlichkeiten und verdrehter Sätze, nicht wahr?“
„Du wirst es überleben.“
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Das Essen gestaltet sich, wie du es befürchtet hattest, als konversationelles Minenfeld. Du bist unter einfachen Verhältnissen aufgewachsen, die hohe Kunst der Tischgespräche war dir seit jeher ein Rätsel. Zu deinem Glück übernimmt Allyster die meiste Zeit das Reden und auf alle an dich gerichteten Fragen kannst du mit den Antworten reagieren, die Allyster dir während eurer vielen Reisen beigebracht hatte. Du bist allerdings froh, dass euer Gastgeber sich offenbar selbst gerne reden hört und einen Großteil der Konversation alleinbestreitet.
Der Händler erzählt euch eine Menge über die Geschäfte, die er in Mittsee zu führen gedenkt. Später beginnt er, nach euren Erlebnissen zu fragen und hört gespannt zu, als Allyster ihm von diversen Aufträgen berichtet, die ihr bisher ausgeführt habt.
„Nun, Aji“, spricht der Händler unvermittelt den Jungen an. „Man kommt nicht umhin, deine Haarfarbe zu bemerken. Wenn ich fragen darf: Wurdest du so geboren?“
Aji schaut verschreckt zu Allyster, der unmerklich den Kopf schüttelt.
„Nein“, sagt Aji leise. „Es war ein Unfall.“
„Er ist mein Lehrling“, mischt sich Allyster ein. „Ein Trank, der nach hinten losgegangen ist.“
„Ein gefährliches Leben, in der Tat!“ Der Händler lächelt. „Was führt euch nun eigentlich nach Mittsee? Ich weiß von keinem Krieg oder Konflikt, der hier herrscht – ganz im Gegenteil, die Piraten sind in den letzten Jahren ungewöhnlich ruhig gewesen und Kalynor hat sich sowieso nie in unsere Kriege eingemischt. Was also lockt euch an diesem entlegenen Ort?“
Obwohl die Frage scheinbar an euch alle gestellt ist, sieht der Händler insbesondere dich an. Du schluckst hastig das Stück Forelle herunter, an dem du bisher gekaut hast. Du wagst nicht, zu Allyster zu sehen, aus Angst, dass der Blick deine Unsicherheit verraten könnte.
Sollst du dem Händler die Wahrheit sagen? Dass ihr den Schöpferstein der Piraten stehlen wollt?
Oder solltest du versuchen, dir schnell eine plausible Lüge auszudenken?
Du entscheidest dich …
- … für die Wahrheit. Lies weiter bei Kapitel 13.
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- … für eine Lüge. Lies weiter bei Kapitel 14.