Die Höhle ist tatsächlich nur drei Flussbiegungen weiter oben.
Was das Moosmännchen nicht erzählt hat, ist, dass diese Biegungen jeweils mehrere Kilometer auseinander liegen. Es handelt sich um einen wirklich gerade fließenden Bach.
Ich laufe also den halben Tag bergauf, während die Luft immer dünner wird. Ich kann nicht einmal hecheln, weil ich ja die fadenscheinige Kette im Maul trage. Mehrere Waldtiere starren mir neugierig hinterher, während ich mich nach oben quäle.
Endlich, endlich verlasse ich den Wald und erkenne einen dunkleren Fleck in den vielen Steinen, die sich vor mir auftürmen. Eine große Höhle im Gebirge. Ich lasse die Kette fallen, atme tief durch und trinke ein paar Zungenvoll von dem klaren Bergbach, zu dem mein Wegführer inzwischen geworden ist.
Jetzt muss man über mich wissen, dass ich ein ganz hoffnungsloser Landschaftsträumer bin. Als ich mich also hier am Berghang umdrehe und hinter und unter mir das bewaldete Tal ausgebreitet sehe, schnappe ich nach Luft und muss erst einmal eine Weile stehen bleiben und starren – die Gedanken über die Hügel gleiten lassen.
Ach, solche Anblicke sind herrlich! Zwar stören einige Menschenhäuser aus Holz das Bild, aus deren Kaminen Rauch aufsteigt, doch ansonsten präsentiert sich dem Auge ein eingefrorenes Meer, dessen Wellen aus Laub- und Nadelbäumen bestehen. Kleine Wolkenfetzen treiben auf Augenhöhe vorbei. Hier oben fühlt man sich schwerelos, als würde man fliegen. Die Welt sieht winzig klein aus. Ein seltsames Gefühl, halb Höhenangst, halb Allmachtsfantasie, macht mich schwindelig.
Wunderschön!
Schweren Herzens entsinne ich mich meiner Aufgabe. Ich hebe also die elende Kette wieder auf und nähere mich der Höhle.
Pfui, was ist das für ein Gestank? Das riecht nach faulen Eiern und altem, madigen Fleisch. Ein Trollhort? Eigentlich ist der geschwungene Gang, der mich in die Tiefe führt, zu groß für Trolle. Sie bevorzugen engere, kleinere Höhlen, in die das Sonnenlicht nicht so gut eindringen kann.
Doch je weiter ich gehe, desto dunkler wird es um mich. Die Höhle geht wirklich tief in den Fels hinein. Und sie ist so geräumig, dass ich mir sehr klein vorkomme. Falls es mal Tropfsteine gab, sind sie lange fort.
Schritt für Schritt bekomme ich größere Bedenken. Ob mich der Moosmann wirklich richtig verstanden hat? Die Höhle wirkt, als ob sie von etwas Großem benutzt wurde … Wenn nun das Große noch da ist? Und was tue ich hier überhaupt? Ich habe eine perfekte, hübsche Kette mit Rubinen, die ich dem Stinthengst geben könnte!
Plötzlich gewahre ich vor mir einen Lichtschimmer. Das ist doch ... Unglaublich! Das ist Gold!
Ich laufe schneller. Klar, Tiere können für gewöhnlich nichts mit Reichtümern anfangen, aber dieser Schatz übt eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Ich hetze die letzte Strecke nach unten und springe mitten in einen großen Haufen goldener Münzen.
Autsch! Wieso sieht das im Fernsehen bloß immer so einfach aus?
Ich grabe mich wieder nach oben und lecke mir die schmerzende Flanke und Pfoten und den Bauch. Auauau. Gut, ein Bad im Reichtum wäre jetzt schon mal von meiner Löffelliste gestrichen.
Ich sehe mich um. Offenbar hat mich der Moosmann doch zur richtigen Adresse geschickt. Hier gibt es Kostbarkeiten en masse! Ich muss nicht einmal viel nehmen, ein großer Edelstein würde dem Stinthengst sicherlich reichen.
Neugierig durchwühle ich die Haufen mit den Pfoten. Hmm … diesen Diamanten? Oder vielleicht die goldene Krone, die sieht schön aus – oder doch besser die Perlenkette? Wobei – was will ein Fisch mit einer Kette, wie abwegig! Er würde sicherlich einfach hindurch schwimmen. Oder ob ihm gerade das gefällt?
Ich finde einige große Goldmünze und prüfe sie mit den Zähnen. Ich hab‘ zwar keine Ahnung, was man dabei genau merken soll, hab aber gesehen, wie Menschen das manchmal machen.
Als ich gerade eine Münze zwischen den Zähnen habe, kommt plötzlich Bewegung in die Haufen von Kostbarkeiten.
Ich erstarre. Da liegt etwas unter dem Gold. Das befürchtete große Etwas.
Ich mache vorsichtig ein paar Schritte zurück.
Die Bewegungen werden heftiger und das Etwas erhebt sich in einem Regen aus Goldstücken. Plötzlich sehe ich in die großen, gelben Augen eines gigantischen Reptils, dessen Kopf auf dem langen Hals schon fast die Höhlendecke streift, während sein massiger Körper noch unter Haufen von Reichtum begraben bleibt.
Einen Moment starren wir einander verdutzt an – der Grauwolf mit einer Kette und einer Münze im Maul, was sicherlich reichlich albern aussieht, und das schlangenähnliche Reptil, dessen senkrechte Pupillen sich verengen. Über seine schwarzen Schuppen läuft irgendein ekeliges Zeugs. Ich entdeckte eine Schwanzspitze mit einer Linie von Zacken darauf, die am einen Ende der Höhle streng auf den Boden tappt – wie der Fuß eines ungeduldigen Lehrers vielleicht.
„Rhm“, nuschele ich. „Schuldigung.“
Der Drache öffnet das Maul und faucht. Jetzt weiß ich auch, woher der Geruch nach Schwefel kommt. Ich würge, als sein Atem über mich streift.
Mit einem Röhren fährt das Wesen in die Höhe und schlägt mit einer Fußkralle nach mir. Ich mache einen Satz und hetze den breiten Gang hinauf, verfolgt von wütendem Gebrüll – allerdings folgt kein Feuer, also handelt es sich technisch gesehen nicht um einen Drachen sondern um einen Lindwurm. Die Tatsache, dass er nur zwei Beine hat, scheint das zu bestätigen. Keine besonders tröstliche Erkenntnis, denn Lindwürmer sind hochgiftig, pfeilschnell und ebenso nachtragend wie Drachen.
Ich fliege förmlich aus der Höhle, den Berg hinab und in den Wald. Ich kann den Lindwurm hinter mir hören, sein Gebrüll und das Knacken, mit dem die Bäume umfallen, die ihm unglücklicherweise im Weg waren.
Okay, okay. Ich muss die Ruhe bewahren. Survival 101 – wie entkommt man einem wütenden Lindwurm?
Meine erste Idee ist der Fluss, und da ich kein großer Plänemacher bin, springe ich sofort ins Wasser und laufe den Weg zurück, den ich vor kurzem hinaufgelaufen bin. Das Wasser verwischt hoffentlich meine Spur!
Tatsächlich wird das Wüten des Lindwurms leiser und schließlich traue ich mich, langsamer zu laufen.
Die Münze steckt immer noch zwischen meinen Zähnen. Ha! Ich hab’s geschafft! Jetzt muss ich nur noch zur richtigen Flussbiegung zurück und die Münze dem Stinthengst geben. Daaaann … Wie war das noch gleich? Genau, dann muss ich Gully seine Augen bringen und den Halbtroll zu der Höhle bringen, die er für mich öffnen muss, damit Capracandor und Ly mir zur Wikiothek helfen können.
Puh. Das ist ja fast wie eine Runde „Ich packe meinen Koffer“!
*
Schließlich nehme ich den bekannten Duft nach Gurken wahr und verlangsame meine Schritte.
„Hallo?“
„Du bist es.“ Der Fisch kommt unter einem Stein hervor und schwimmt um meine Pfoten. „Das war ja ein ziemlicher Lärm da oben.“
„Och, echt?“
„Ja, und der halbe Wald wurde entwurzelt.“
Ich werfe einen Blick den Hang hinauf. Mir bietet sich der Anblick eines gigantischen Mikadospiels.
„Vielleicht ein Hurrikan oder so.“
Der Fisch sieht mich zweifelnd an. Hätte er Augenbrauen, würde er sie vermutlich runzeln.
„Den Fluss weiter runter gab es auch einen ziemlichen Auflauf, beim Zwergendorf. Und es kam ein ziemlich wütender Moosmann vorbei.“
„Wirklich?“ Ich gebe mich erstaunt, aber der Fisch scheint nicht überzeugt. Schnell wechsele ich das Thema: „Ich habe etwas Tolles für den Stinthengst: Eine richtige Drachenschatzmünze!“
Stolz lasse ich das Meisterwerk ins Wasser plumpsen. Der Stint schwimmt heran und ich sehe selbst durch die Wellen deutlich, wie er die Schnauze verzieht. „Eine einzige Goldmünze?!“
Dabei schielt er auf die Kette, die ich noch im Maul habe. Ich seufze und lasse sie ebenfalls in Wasser gleiten. „Reicht das?“
„Das ist ein ziemlich fadenscheiniges Gehänge.“
„Ja.“ Ich bin nun wirklich kein guter Feilscher. „Aber echte Rubine.“
Der Stint greift sich die Sachen mit den Flossen und schiebt sie unter seinen Stein. Kurz darauf kehrt er mit zwei durchsichtigen Steinchen zurück und lässt sie mir vor die Pfoten fallen.
„Bitte sehr.“
„Danke!“ Ich nehme die Halbedelsteine auf und recke glücklich den Kopf. Jetzt nichts wie zurück zu Gully!
Der Fisch sieht mir nach. Da ich fröhlich durch das Wasser platsche, kann ich sein gehässiges, blubberndes Lachen auch nicht hören. Kurz darauf verschwindet der Fisch mit einem leisen Puffen in einer kleinen Wolke.
Eine Wolke unter Wasser – echt schade, dass mir das entgangen ist.
Der echte Stint kommt übrigens einige Minuten später an der gleichen Stelle an und stellt fest, dass zwei Steine aus seiner Sammlung gestohlen wurde. Er zählt zwei und zwei zusammen und kommt auf fünf … aber dazu später mehr.
Nichtsahnend begebe ich mich auf direktem Weg zu meinem neuen besten Freund.