Helena Contarini saß an ihrem hölzernen Schreibpult im Kontor ihres Vaters und brütete über den spärlichen Eintragungen in ihr Handelsjournal. Sie zog das Rechenbrett zu sich heran, schob die Rechenpfennige zu einem Haufen zusammen und begann sie neu auszulegen. Das Ergebnis wurde nicht besser. Die Einnahmen des Quartals würden nicht ausreichen, um ihrem Vater die vereinbarte Kreditrate zurückzuzahlen. Mit einem wehmütigen Seufzer klappte sie das dünne Buch aus gebundenen Pergamentblättern zu und verwahrte es in ihrem Schreibpult. Ihr lang gehegter Traum vom eigenen Geschäft drohte sich zu einem Fiasko zu entwickeln. Warum weigerten sich nur die meisten Männer, mit einer Frau, einer unverheirateten noch dazu, Geschäfte zu machen?
Sie griff nach dem eleganten Glastiegel, der zwischen Münzwaage und Rechenbrett auf dem Schreibtisch stand, und betrachtete ihn nachdenklich. Der Tiegel war eines der Stücke, die sie für den Verkauf von Ravenas kostbarer Schönheitssalbe in Auftrag gegeben hatte. Die Arbeit des Glasmachers war ein exquisites Kunstwerk und sie war überglücklich gewesen, etwas so Schönes in den Händen zu halten. Zumal es ihr gelungen war, einen ausgezeichneten Preis auszuhandeln. Jorans Entwurfszeichnung hatte sich dabei als echter Glücksfall erwiesen, denn so hatte der Glasmacher sogleich begriffen, was sie wollte.
Wie gerne hätte sie Joran das schöne Gefäß vorgeführt, doch seit ihrem etwas unglücklichen Zusammentreffen bei der Hochzeit ihres ältesten Bruders hatte sie ihn nicht mehr zu sehen bekommen. Er schien Venedig verlassen zu haben und niemand konnte - oder wollte - ihr sagen, wo er steckte. Sie machte einen tiefen Atemzug, stellte das Glasgefäß an seinen Platz zurück und wandte sich wieder ihrem Rechenbrett zu. Sie musste noch mindestens fünf der Salbentiegel verkaufen, um ihren Vater auszahlen zu können, und dann hatte sie noch keine Münze Gewinn gemacht. Himmel, warum war es nur so verdammt schwer, als Frau Geschäfte zu machen?
Sie verstöpselte ihren Tintenbehälter, erhob sich und ging in den angrenzenden Lagerraum. Dort füllte sie einen gepolsterten Korb mit den Salbentiegeln und trug ihn ins Kontor. Wenn ihr Vater herunterkam, würde sie ihn an den Rialto begleiten, und während er dort seinen täglichen Bankgeschäften nachging, ergab sich für sie vielleicht eine Gelegenheit etwas zu verkaufen.
Helena öffnete eines der Fenster und spähte auf den Canal hinaus. Auf dem Wasser herrschte schon reger Bootsverkehr, eine Tatsache, die ihr verriet, dass es viel später war, als sie angenommen hatte. Wo blieb nur ihr Vater? Er war sonst immer der Erste im Kontor, aber heute ließ er sich erstaunlich viel Zeit. Das war ungewöhnlich.
Helena durchquerte den Wassersaal, trat durch die rückwärtige Tür in den Hof hinaus und eilte die Treppe zu den Räumen der Familie hinauf. Sie durchquerte den Portego und traf auf Monna Viviana, die mit undamenhafter Hast aus dem Gemach des Hausherrn stürzte und dabei laut nach einem der Hausmädchen rief. Völlig perplex starrte Helena ihr hinterher. »Mutter? Mutter, was ist denn hier los?«
»Helena. Gut, dass du kommst. Deinem Vater ist erneut der Blitz in die Glieder gefahren und nun kann er sich nicht aus dem Bett erheben. Dabei ging es ihm doch schon wieder so viel besser.«
»Oh. Das ist in der Tat eine unglückliche Wendung.«
Viviana rang die Hände. »Es ist ein fürchterliches Drama! Ausgerechnet heute, wo doch die ganzen Warenlieferungen ankommen sollen. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Ich hatte noch nie damit zu tun.«
»Also ... ähm, aber ich«, sagte Helena vorsichtig. »Ich könnte mich um den Empfang der Lieferungen kümmern.«
»Ach Kind, wie stellst du dir das vor? Das sind alles erfahrene Händler. Sie werden, dich nach Strich und Faden zu betrügen.«
»O nein«, sagte Helena mit fester Stimme. »Das werden sie nicht. Ich weiß, wie ich mit ihnen umzugehen habe.«
»Wie bitte? Woher denn, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe aufgepasst, wie Vater es macht«, erwiderte sie ausweichend.
Tatsächlich genügte es, dass ihr Vater ihr Geschick bei Verhandlungen kannte. Er hatte ihr schön öfter erlaubt, ihn im Kontor zu vertreten, wovon ihre Mutter jedoch nichts wusste.
Ehe Viviana ihre Zweifel kundtun konnte, deutete Helena auf die geschlossene Tür. »Ob ich wohl hineingehen darf? Ich müsste Vater noch einige Dinge fragen.«
»Nun, geh nur Helena und leiste deinem Vater Gesellschaft, bis ich einen heißen Stein für seinen Rücken bestellt habe. Es dauert nicht lange.«
Helena betrat die Schlafkammer und setzte sich zu ihrem Vater ans Bett. »Wie geht es Euch?«
»Nicht sehr gut, um ehrlich zu sein«, erwiderte Florimond Contarini mit einem etwas gequält anmutenden Lächeln. »Ich werde wohl ein paar Tage das Bett hüten müssen. Wirst du solange allein zurechtkommen im Kontor, Helena?«
»Natürlich, Herr Vater. Sorgt Euch nicht.«
»Du musst als Erstes zur Bank gehen und die Bezahlung der Wolltuche veranlassen, die in der vergangenen Woche eingetroffen sind.«
»Ja, Vater. Ich werd´s versuchen.«
»Warum nur versuchen? Traust du es dir nicht zu?«
»Nicht zutrauen?«, wiederholte Helena ungläubig und schnaubte. »Wenn mich einer daran hindert, Eure Bankgeschäfte zu tätigen, dann ist das Messèr Pisani, der die Meinung vertritt, eine Frau könne die komplexen Vorgänge des Rechnens nicht begreifen, nicht mit Geld umgehen und habe ohnehin in einem Handelskontor nichts verloren«, zählte sie auf, und jeder der Vorwürfe klang wie ein Peitschenhieb.
Florimond hob beschwichtigend die Hände. »Pisanis Bedenken hin oder her, ich werde dir eine Vollmacht ausstellen, die ihm keine Chance lässt, deinen Wünschen zu widersprechen.«
Helena starrte ihren Vater an und wusste mehrere Augenblicke nichts zu sagen. »Ihr wollt mir tatsächlich ...«
»Ja, warum nicht? Du bist in unserem venezianischen Kontor bei Weitem die gewitzteste Mitarbeiterin. Niemand könnte mich besser vertreten als du.«
Helena nahm das Kompliment lächelnd zur Kenntnis. »Das sollte Mutter besser nicht zu Ohren kommen.«
»Natürlich nicht«, versicherte ihr Vater mit einem Augenzwinkern. »Jetzt geh und bring mir Schreibzeug und mein Siegel, damit wir die Sache hinter und bringen, bevor uns deine Mutter doch noch auf die Schliche kommt.«
Helena sprang auf und eilte aus der Kammer. Sie musste sich zu einem schicklichen Tempo zwingen, obwohl sie am liebsten mit gerafften Röcken zur Treppe gestürmt wäre. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Mutter in die Arme laufen. Was die Arbeit ihrer Tochter betraf, war Monna Viviana ganz und gar nicht einer Meinung mit ihrem Gemahl. Zwar war sie durchaus stolz darauf, dass ihre Tochter schrieb und rechnete wie ein Gelehrter, doch wann immer Viviana diese Art von mütterlichem Wohlwollen an den Tag legte, musste Helena den Drang niederringen zu schreien. Keiner ihrer Brüder zeigte Neigung, die Compagnia Contarini zu führen und sie, die sich nichts Schöneres vorstellen konnte, durfte nicht, aus dem unsinnigen Grund mit dem falschen Geschlecht zur Welt gekommen zu sein.
Aber immerhin würde sie dank der Vollmacht in den nächsten Tagen das Sagen haben und sie war fest entschlossen, allen zu beweisen, dass sie eine ausgezeichnete Händlerin war.