Teil 2/2
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Vier Monate waren vergangen, seit ihr Gatte in den Krieg gezogen war. Ronja hatte ihren Geist mit allerlei Dingen beschäftigt, um bloß nicht in ihren Sorgen um Johann zu versinken. Umso schwerer sie tagsüber arbeitete, desto mehr Erholung verlangte ihr Körper zur Ruhezeit. Dennoch überwogen die schlaflosen Nächte, in denen sie aus schrecklichen Alpträumen hochschreckte, schweißgebadet, nur um festzustellen, dass der Schlafplatz neben ihr tatsächlich verwaist war.
Eines Nachts hielt es Ronja nicht länger aus. Der Mond stand hell am schwarzen Himmel und warf sein fahles Licht durch das Fenster aufs Bett. Die Sorgen hatten sich tief in ihr Inneres gefressen und erlaubten ihr keinen Moment der Ruhe. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um Johann, malten die schrecklichsten Bilder und erwarteten zugleich, dass er jeden Moment auf den Hof geritten käme.
Vom Schmerz getrieben griff Ronja nach einer kleinen, seltsam verzierten Truhe aus Ebenholz, die sie unter ihren Kleidern verborgen hatte. Ihre zitternden Finger brauchten mehrere Versuche, um den feinen Verschluss zu öffnen, doch schließlich klappte der Deckel zurück und offenbarte fünf schneeweiße Kerzen, die im Mondlicht glänzten. Vorsichtig nahm Ronja sie aus der Truhe, stellte sie in einem Kreis auf den Boden und zündete sie an. Dann griff sie nach dem silbernen Dolch, der unter den Kerzen zum Vorschein gekommen war, und legte ihn in ihre Handfläche. Sie biss die Zähne zusammen, als die scharfe Klinge ihre Haut durchschnitt. Im nächsten Moment sammelte sich das im Kerzenschein dunkelrot schimmernde Blut in den Furchen ihrer Haut und drohte, auf ihren Rock zu tropfen. Schnell presste Ronja ihre Handflächen zusammen und begann, die Kerzen mit Linien auf dem Boden miteinander zu verbinden. Zuletzt malte sie mit ihrem eigenen Blut ein Zeichen aus mehreren geschwungenen Bögen in die Mitte, bevor sie sich notdürftig einen Stofffetzen um die verletzte Hand wickelte. Sie schloss die Augen und flüsterte mit zitternder Stimme die Formel, deren Worte in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren, obgleich sie sie noch nie laut ausgesprochen hatte.
Vor Ronjas Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen und die Wände schienen sich seltsamerweise auf sie zuzubewegen. Der Raum fing an, sich um sie herum zu drehen, immer schneller, und Ronja schmeckte bittere Magensäure auf ihrer Zunge, die Übelkeit nahm Überhand. Sie spürte noch, wie ihr gefühlloser Körper in sich zusammensackte, bevor ihr Geist in eine tiefe Finsternis hineingezogen wurde.
Im nächsten Moment blickte Ronja in das sorgenvolle Gesicht ihres Mannes. Johann kniete auf dem Boden, seine Kleidung war zerrissen und schmutzig, an einigen Stellen war zweifellos Blut eingetrocknet – hoffentlich nicht sein eigenes. Ronja hob die Hand, um sein Gesicht zu berühren, ihn zu trösten, doch sie unterbrach die Bewegung. Jeder Versuch wäre sinnlos, es war keine Berührung möglich, ebenso wenig, wie Johann sie wahrnehmen konnte, darüber war sie sich im Klaren. Erst jetzt bemerkte Ronja, dass Johann mit leerem Blick seine Handflächen anstarrte, in denen der Ring lag, den sie ihm mitgegeben hatte. Für ihn bloß ein Talisman, für sie der Anker ihres Geistes, ohne den der Dissociationszauber nicht möglich gewesen wäre. Denn für den Dissociatio Animi benötigte die Seele stets einen Gegenstand, an den sie gebunden wurde, um zu verhindern, dass sie sich in den unendlichen Gefilden des Daseins verirrte. Ronja wusste, sie würde den Zauber nicht allzu lange aufrecht erhalten können, denn um in ihren Körper zurückzukehren, musste dieser genug Kraft aufbringen. Doch sie hatte erreicht, wofür sie gekommen war: Die Gewissheit um Johanns Leben und um seine weitgehende Unversehrtheit. Wie ein Häufchen Elend kniete er dort auf dem Boden, die Verzweiflung sprach aus seinem gesamten Körper. Was wünschte sie sich, seine Berührung zu spüren und mit ihm zu sprechen! Doch das war schlichtweg unmöglich. Schweren Herzens riss sich Ronja los und konzentrierte sich auf ihren eigenen Körper. Es ging leichter als erwartet und im nächsten Augenblick hob Ronja ihr blutverschmiertes Gesicht vom rauen Holzboden ihrer Schlafkammer.
Ronja war unglaublich erleichtert, dass der Zauber auf Anhieb gelungen war. Der Anblick ihres Mannes – lebendig und intakt – beflügelte die darauffolgenden Tage. Von einem Teil ihrer Sorgen befreit fand sie sogar wieder etwas Erholung im nächtlichen Schlaf. Doch die Freude wich viel zu schnell den erneuten Sorgen. Was, wenn in der Zwischenzeit etwas passiert war? Johanns Augen hatten so traurig ausgesehen... was, wenn er eine Vorahnung hatte?
So verging nicht viel Zeit, bis Ronja erneut die dunkle Truhe aus ihrem Versteck holte. Der inzwischen abnehmende Mond und eine beständige Wolkendecke machten die Nacht ungewöhnlich finster, doch die nötigen Handgriffe waren ihr inzwischen vertraut. Den Schmerz der silberfarbenen Klinge spürte sie kaum und die Beschwörungsformel ging ihr viel leichter von der Hand als beim ersten Mal. Im Nu begrüßte sie den Strudel der Finsternis, der sie in eine andere Daseinswelt zog.
Diesmal fand sich Ronja auf einem nächtlichen Schlachtfeld wieder. Um sie herum war alles still bis auf eine kleine Gruppe von Männern, die sich inmitten der Leichenberge befanden. Ihre Augen glänzten müde im Fackelschein. Einige standen in einem zerstreuten Halbkreis um ein paar wenige herum, die auf dem Boden knieten. Der Schreck ließ Ronja erstarren, als sie erkannte, dass Johann darunter war. Die schmutzigen Gesichter der am Boden kauernden Männer waren zu schrecklichen Fratzen verzerrt, in denen sich die pure Verzweiflung spiegelte. Der Kommandant der größeren Gruppe rief etwas, doch die Worte klangen seltsam fremd in Ronjas Ohren. Als niemand reagierte, trat er Johann grob in den Rücken, sodass dieser mit dem Gesicht im Dreck landete, dann sprach er weiter. Ronja war in ihrer Machtlosigkeit des stillen Zuschauers erstarrt, unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Sie konnte nicht glauben, wovon sie in diesem Augenblick Zeugin wurde. Die Ansprache des Kommandanten wurde von zustimmendem Gemurmel der Umherstehenden begleitet. Schließlich zog er sein Schwert und stellte sich hinter den ersten der auf der Erde knienden Männer. Die Klinge blitzte im Fackelschein auf und fuhr herunter. Ronjas Panik brach heraus. Schreiend warf sie sich dazwischen, doch in ihrer geisterhaften Form konnte sie keinen Kontakt zu den weltlichen Geschöpfen aufnehmen. Der Henker folgte der Reihe und im nächsten Augenblick fiel auch der Körper des zweiten Gefangenen leblos zu Boden. Ronja raste und warf sich auf den feindlichen Kommandanten, doch niemand der Männer bemerkte überhaupt ihre Anwesenheit. NEIN! NEIN! NEIN! JOHANN! NEIN! Sie wollte schreien, brüllen, doch noch immer verließ kein Laut Ronjas Lippen. Der Anblick ihres Mannes, der hilflos zusammenbrach, nahm ihr wortwörtlich den Boden unter den Füßen. Sie fiel auf ihn und wollte sein Gesicht auffangen, ihn trösten, ihn ein letztes Mal küssen, doch ihre Hände griffen einfach durch den Körper hindurch. Nicht einmal weinen konnte sie, nur eine tiefe, dunkle, bodenlose Trauer grub sich in ihr Inneres. Der Schrei brach schließlich hervor und zerriss ihren Geist. Ronja bemerkte nicht, wie sich die feindlichen Soldaten zurückzogen und die Leichen auf dem blutgetränkten Feld zurückließen. Sie bemerkte auch nicht, wie die Sonne langsam aufging und die schreckliche Szenerie in ein warmes Morgenlicht hüllte.
Etwa zur selben Zeit fand die Magd Ronjas geistlosen Körper auf dem Boden ihrer Kammer. Sie war nicht tot, ihre Augen waren sogar geöffnet, doch die einst so lebhafte junge Frau war nur noch eine leere Hülle. Keiner konnte wissen, dass ihr Geist noch immer ziellos auf den Schlachtfeldern umherirrte, gefangen von der Tat eines ihr unbekannten Mannes, deren ungebetene Zeugin sie geworden war.