Lia hielt für einen Moment inne und schnaufte tief durch. Bei jedem Atemzug bildeten sich in der eiskalten Luft kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Sie hob den Blick, um sich an ihrer Umgebung zu orientieren. Weiße Wildnis. Hier verbarg sich ein eingeschneiter Busch, dort reckte sich ein einsamer Nadelbaum dem grauen Himmel entgegen. Wie weit es wohl noch war? Würde sie sich für eine weitere Nacht Unterschlupf suchen müssen? Seit dem frühen Morgen hatte ein leichter, aber stetiger Schneefall eingesetzt. Seufzend wischte sich junge Frau mit dem Handschuh über ihr Gesicht, auf dem die Schneeflocken erst schmolzen, nur um dann ihre klamme, taub gewordene Haut mit einer dünnen Eisschicht zu überziehen. Doch sie wusste, dass der Neuschnee ihre tiefen Fußspuren langsam auslöschte. Ihre Fährte würde immer schwieriger zu verfolgen sein.
Neben Lia schnaubte ihr weißes Pony und rieb den Kopf an seinem Vorderbein. "Du hast ja Recht, Ryla. Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen," murmelte die junge Frau unter zusammengebissenen Zähnen. Sie warf noch einen kritischen Blick zurück, doch in der weißen Wüste bis zum Horizont, den sie vor der Wolkendecke kaum erahnen konnte, rührte sich kein einziges Lebewesen. Lia vergrub ihre rechte Hand wieder in der dichten Mähne des Tieres und stapfte weiter. Es forderte einige Anstrengung, um in dem frischen Neuschnee Fuß zu fassen, und so war es sicherer, die Stute neben ihrem Gepäck und dem mit einem weichen Schafsfell überzogenen Sattel nicht auch noch mit ihrem eigenen Gewicht zu belasten. Der Zügel war über ihrem stämmigen Hals verknotet, denn Ryla benötigte keine weiteren Kommandos. Sie wich der jungen Frau nicht von der Seite, die sie von Geburt an großgezogen hatte.
So wanderten sie stumm nebeneinander her, Mensch und Tier. Ein weiterer Tag verging und brachte keine Veränderung. Lange bevor die Dämmerung einsetzen würde begann Lia bereits, die Augen nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht offen zu halten. Eine kleine Höhle oder eine dichte Baumgruppe wären ideal. Die karge Wildnis hatte sie schon in der Vergangenheit auf die Probe gestellt. Wenn sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nichts gefunden hatten, würde das eine sehr harte Nacht werden.
Plötzlich zuckten Rylas Ohren und sie hob aufmerksam den Kopf. Lia verharrte augenblicklich und versuchte angestrengt zu erkennen, was die Aufmerksamkeit des Ponys erregt hatte. Als das Tier nervös die Augen verdrehte und begann, auf der Stelle zu tänzeln, wurde der Frau schlagartig flau im Magen. Als sie sich, von einer düsteren Ahnung getrieben, in den Sattel schwang, vernahm sie bereits das leise Bellen eines Hundes. Das Pony spürte ihre aufkommende Panik und sprang los, noch bevor Lia einen Impuls dazu gab. Zwar waren ihre Verfolger sicherlich noch weit entfernt, denn die Schneeebene trug den Schall außerordentlich weit. Doch wenn sie einmal ihre Spur aufgenommen hatten, zählte jeder Augenblick.
Lia beugte sich tief über den Hals des Ponys, das im gestreckten Galopp durch die weiße Wildnis jagte. Insgeheim hoffte sie, dass Ryla bei dieser Geschwindigkeit nicht in den verborgenen Bau eines Tieres trat oder über eine Schneeverwehung stolperte. Das Gebell hinter ihnen wurde lauter. Es musste sich um eine größere Gruppe handeln – und sie holten schnell auf. Verdammt schnell. Nun drangen auch die Rufe von Männern an Lias Ohren. "Schneller!", brüllte sie und das Pony streckte sich noch ein bisschen mehr. Seine Hufe donnerten über den weichen Untergrund. Die dichte Mähne und der eisige Schnee peitschten Lia ins Gesicht, sodass es ihr schwer fiel, die Augen offen zu halten.
Ihre Verfolger holten immer weiter auf. Im Augenwinkel nahm Lia eine Bewegung wahr und ein Blick zur Seite bestätigte ihre Befürchtung. Neben ihnen hetzte ein brauner Hund über die Schneedecke und schnappte zähnefletschend nach Rylas Beinen. Das Pony riss den Kopf nach oben und wich mit einem Satz aus, der Lia beinahe aus dem Sattel befördert hätte. Doch der Sprung brachte auch das Tier aus dem Gleichgewicht, sodass es langsamer wurde. Ein schmerzvolles Wiehern mischte sich unter das Gebell und die Schreie der Angreifer, als sich die Fänge des Jagdhundes in sein Fleisch gruben. Ryla trat ein weiteres Mal aus und ein schrilles Jaulen verriet Lia, dass das Pony ihren Angreifer getroffen hatte. Doch der Reiterin blieb nichts, als sich noch fester in seine Mähne zu krallen, als es wieder nach vorn schoss. Der nächste Hund hatte während der Ablenkung aufgeholt – oder war es der selbe? Auch das Brüllen der Jäger wurde immer lauter. Sie konnten sich nur noch wenige Meter hinter ihnen befinden.
Ein halb verrotteter Baumstamm ragte plötzlich vor ihnen aus dem Schnee. Ryla ließ sich nicht beirren und überwand ihn mit einem geschmeidigen Sprung. Doch beim Aufsetzen knickte ihr Bein im weichen Schnee weg. Das Pony strauchelte und Lia wurde nach vorn auf seinen Hals geschleudert. Mit aller Kraft klammerte sie sich an das mutige Tier, das sein Gleichgewicht wiederfand und weiter jagte. Die Reiterin kämpfte sich zurück in den Sattel und wagte einen Blick über die Schulter. Der Anblick der gewaltigen Meute, die ihnen auf den Fersen war, ließ Lias Herz einen Moment aussetzen. Im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch das Pony. Lia fühlte, wie sie nach vorn katapultiert wurde. Der Aufprall presste den Atem aus ihren Lungen. Als sie ihre schneeverklebten Augen öffnete, konnte sie nur schemenhaft Rylas Hufe erkennen, die panisch neben ihr im Schnee strampelten. Ein schrilles Wiehern zerriss die Luft. Dann wurde es schwarz um Lia.