Ein letztes Mal ließ Yan seine Finger über die kunstvollen Ornamente gleiten. Er fühlte die feinen Linien, welche sich geschmeidig umeinander wanden. Die Lackierung verlieh dem teueren Holz eine glatte, seidige Oberfläche. Yan legte die Fingerkuppe in eine kleine Mulde, von der aus sich die Verzierungen wie winzige Furchen über den Rahmen spannten. Mit dem Zeigefinger folgte er dem Muster aus zierlichen Schnitzungen. Er hegte keinen Zweifel mehr. Das Kostbarste an dem ganzen Gemälde war der Rahmen, das war doch nur allzu offensichtlich. Nur wollte ihm das niemand glauben.
Yan war der einzige gewesen, der den Wert dieses Kunstwerks auf den ersten Blick erahnt hatte. Alle hatten ihm von einem Kauf abgeraten, hatten ihm nahegelegt, sich doch lieber ein oder zwei Schätze der als verschollen gegoltenen, nun neu entdeckten Ozean-Studien aus van Goghs früher Schaffensphase zu ergattern. Doch der junge Kunstsammler hatte nicht auf seine Kollegen hören wollen. Dieses schlichte Landschaftsportrait eines anonymen Künstlers hatte ihn gepackt. Genau genommen dessen Rahmen, denn diese Schnitzkunst war mit nichts zu vergleichen, was er je aus der Nähe gesehen hatte. Er hatte es einfach besitzen müssen. Auch, wenn er dafür noch einen Kredit hatte aufnehmen müssen. Früher oder später würde es sich schon auszahlen. Und dann würde er es den anderen zeigen.
Völlig gedankenversunken stand Yan vor dem Gemälde und ließ die aufwändigen Ornamente auf sich wirken. Die zierlichen Schwingungen waren für ihn wie tastbare, greifbare Musik. Plötzlich zuckte er zusammen, als sich ein stechender Schmerz in seine Fingerkuppe bohrte. Es war, als hätte sich sein Geist dem Kunstwerk entgegengestreckt, ja wäre mit ihm in der metaphysischen Dimension der Schöpfung verschmolzen. Doch nun wurde er jäh zurück in seinen Körper gerissen und öffnete perplex die Augen. An seiner Fingerkuppe hatte sich eine kleine, rote Perle gebildet. Ehe Yan sich aus seiner Erstarrung befreien konnte, löste sich ein Tropfen von seinem Finger und fiel auf den geschmückten Holzrahmen. Er hinterließ eine blassrote Spur, als er in eine der feinen Linien glitt und sich seinen weg durch die kunstvollen Ornamente bahnte.
Noch während Yan fasziniert zusah, wie sein Blut sich mit dem Kunstwerk vereinte, holte ihn ein schrilles Klingeln zurück in die Realität. Bevor er seinen Körper auch nur in Bewegung setzen konnte, folgte ein ungeduldiges Pochen an der Haustür. "Ist ja gut, ich komm' ja schon!", rief er mit belegter Stimme. Er zwang seine Schritte mit aller Kraft hin zur Tür, wusste er doch, wer dort auf ihn wartete.
"Herr Yannick Lohnsdorf?", fragte ein grobschlächtiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug.
Yan nickte betreten.
"Mayer mein Name. Gerichtsvollzieher im Dienste des Amtsgerichts München. Gemäß den Paragraphen 808 folgende der Zivilprozessordnung bin ich hier, um Ihre beweglichen Wert- und Kunstgegenstände zu pfänden. Jegliche Zuwiderhandlung Ihrerseits ist strafbar", ratterte der Beamte mit mechanischer Stimme herunter. An seine Begleiter gewandt fuhr er fort: "Vergesst mir ja keines der Kunstwerke, das scheint ohnehin das einzig Wertvolle hier drin zu sein."
Gefangen in einer lähmenden Trance sah Yan nicht mehr, wie die Männer in seine Wohnung marschierten, ihre schmutzigen Hände an den verzierten Rahmen des Gemäldes legten und es von der Wand hoben. Das Pochen seines Fingers erfüllte seinen ganzen Körper und stumme Tränen sammelten sich in seinen glasigen Augen. Sie ließen seine glattrasierten Wangen glänzen.