„Pass auf!“ Victor Jacobs packte seinen Kameraden am Kragen und zog ihn in Deckung, kurz bevor die Granate explodierte.
Splitter und Dreck prasselten gegen den Felsen, doch die beiden Soldaten blieben unverletzt.
„Danke“, hauchte der Soldat.
Victor konnte den Schock in seinen Augen sehen, ebenso die Erschöpfung. Er nickte und klopfte ihm auf die Schulter. „Weiter! Wir müssen unseren Alliierten Zeit verschaffen!“
Der Soldat nickte ebenfalls mit grimmiger Entschlossenheit, lehnte sich über den Felsen und schoss in Richtung des Feindes auf der anderen Seite des Flusses.
„Wir werden sie nicht ewig aufhalten können!“, rief der Soldat verzweifelt. „Es sind einfach zu viele!“
„Ich weiß!“, antwortete Victor. „Aber wir haben keine Wahl! Wir halten diese Grenze, was auch immer passieren mag!“
Egal, wie finster es für uns aussieht.
Während Victor seinen Karabiner nachlud, dachte er an die vergangenen vierzehn Tage zurück. Das Hauptquartier hatte seine Einheit nach einer kräftezehrenden Ausbildung an die Landesgrenze im Gebirge versetzt. Victor und der Rest der Soldaten waren dafür ausgebildet worden, in diesem unebenen und unübersichtlichen Terrain zu kämpfen. Und genau das hatten sie die letzten Tage auch unerbittlich getan. Dabei wussten sie genau, dass sie gegen eine unglaubliche Übermacht antraten.
Die Soldaten des Fürsten hatten die Landesgrenzen der verbündeten Länder wie eine Naturgewalt überschwemmt und warfen sich nun gegen die Grenzen von Victors Heimatland. Dabei hatte der Fürst das erste Mal in der Zeit, in welcher der Krieg schon tobte, Fallschirmspringer während der Nacht hinter den Landesgrenzen abspringen lassen. Dieser Schachzug hatte die Verbündeten kalt erwischt und den Soldaten des Fürsten ermöglicht, die ersten Städte in einem Land zu besetzen, welches sich gerade erst den westlichen Streitkräften angeschlossen hatte, um Widerstand gegen den Fürsten und seinen Wahnwitzigen Feldzug zu leisten.
Kurz darauf hatten die feindlichen Soldaten auch den Ort erreicht, welchen Victors Einheit abgeriegelt hatte. Der Befehl des Hauptquartiers war klar und unmissverständlich: Haltet die Grenze um jeden Preis.
Das alles war vor vierzehn Tagen passiert. Seitdem leisteten Victor und die anderen Soldaten seiner Einheit einen unerbittlichen Widerstand gegen den Feind, der Welle um Welle gegen die Front warf, um eine Bresche zu schlagen. Jeden Tag verschob sich der Kampfverlauf mehr zu Gunsten des Feindes, doch der Kampfgeist seiner Einheit blieb ungebrochen.
Dabei waren es gerade einmal nur vierzig Soldaten, die noch gegen die Invasoren antraten. Vierzig Männer, die bereit waren, ihr Leben zu geben, um den Alliierten der westlichen Streitmacht die nötige Zeit zu verschaffen, um an die Front vorzurücken und die Invasionsarmee des Fürsten zurückzuschlagen.
Doch nicht nur an Männern mangelte es seiner Einheit. Vorräte und Munition gingen zur Neige, und auch die Waffen begannen zu verschleißen. Das war kein Wunder, schließlich kämpften sie Tag und Nacht um jeden Meter Land. Wenn sich die Einheit einmal nicht in einer direkten Konfrontation mit dem Feind befand, flohen sie tiefer ins Gebirge und in die Wälder. Auf dem Weg sprengten sie die Brücken, welche über tiefe und teilweise auch reißende Gewässer führten. Die Zeit, welche die feindlichen Soldaten für die Reparaturen der Überführungen aufwenden musste, nutze Victors Einheit zum Ausruhen. Scharfschützen nahmen dann aus sicherer Entfernung die Einheiten der Besatzer unter Beschuss und verlangsamten die Bemühungen der Invasoren so zusätzlich.
Nun aber befanden sich die Verteidiger nicht nur an der letzten Bastion, die sie errichtet hatten, sondern auch am Ende ihrer Kräfte. Victor ließ den Blick um sich herum schweifen und sah die ermüdeten und kraftlosen Blicke der Soldaten, die hinter den Felsen und Bäumen Deckung suchten und auf die Feinde auf der anderen Seite des Flusses schossen.
Victors Einheit hatte alle verbleibenden Brücken gesprengt. Die Strömung des Flusses war stark genug um jene fortzuspülen, die versuchten, das Wasser zu Fuß zu durchqueren.
Nur eine Brücke stand noch zwischen der letzten Grenze und den Invasoren und diese verteidigten Victor und die anderen Soldaten mit allem, was ihnen noch zur Verfügung stand.
Jeder von ihnen wusste, dass dies das letzte Aufbäumen gegen den Fürsten war, bevor auch diese Grenze fallen würde.
Trotzdem verspürte Victor einen besonderen Stolz, dieser Einheit, welche das Wildschwein auf ihrem Wappen trug, anzugehören. Das Wildschwein stand für Kraft, Mut und Jagdinstinkt. Für alles, wozu auch die Einheit ausgebildet worden war. Und diese vierzig Soldaten hatten es geschafft, den Vormarsch einer technologisch überlegenden Armee mit trickreichen Mitteln und einem enormen Kampfesmut über mehrere Tage hinweg zu verlangsamen.
Dank ihrer Ausbildung hatte der befehlshabende Offizier eine Strategie parat, wie die Einheit dem Feind ein letztes Mal die Stirn bieten konnte.
Da der Feind mit Panzern anrückte und der Fluss zu stark war, um ihn ohne Überführung zu überqueren, hatten die Soldaten alle anderen Brücken zerstört. So hatten sie es geschafft, den Feind an einem Punkt zu versammeln. Der Offizier hatte der Einheit befohlen, sich über eine weite Linie hinter der Brücke zu verstreuen und den Feind unermüdlich unter Beschuss zu nehmen. So sollte der Feind denken, er hätte es mit hunderten Gegnern zu tun, nicht nur mit vierzig Soldaten, die ihnen im Weg standen.
Victor konnte schon die überraschten Gesichter des Feindes während des Verhörs sehen, wenn die Einheit den Soldaten des Fürsten mit einem Lächeln ins Gesicht sagte, dass sie sich von einer Hand voll Männern hatten aufhalten lassen.
Victor schaute über den Felsen hinweg auf die andere Seite des Flusses. Dort sah er die feindlichen Soldaten in ihren grauen Uniformen zwischen den Bäumen laufen. Einen nach dem anderen nahm er aufs Korn und sorgte dafür, dass jeder seiner Schüsse saß. Auch, wenn es sich um die letzte Stellung handelte, war Zeit das wichtigste Gut, welches sich die Einheit erkämpfen musste.
„Panzer!“, rief der befehlshabende Offizier Victor aus seiner Deckung zu und deutete auf die andere Seite der Brücke.
Zwischen den Explosionen der Granaten und dem Feuern der Waffen hatte Victor das Herannahen der eisernen Kampfmaschine nicht gehört. Nun kämpfte sich der Koloss auf Ketten den Hügeln hinauf, riss dabei Sträucher und kleinere Bäume aus dem Boden und blieb schließlich ein paar Meter vor der Brücke stehen. Das Geschütz des Panzers begann sich zu drehen.
Victor reagierte schnell und blies in seine Trillerpfeife, welche um seinen Hals hing.
Hoffentlich war ich schnell genug, ging es ihm durch den Kopf, während er mit ansehen musste, wie das Geschütz des Panzers sich immer weiter in seine Richtung drehte. Er hatte gedacht, dass sein Puls nicht mehr schneller werden konnte, doch nun wurde er eines besseren belehrt. Schweiß rann seinen Körper und das Gesicht hinab. Trotz seines Kampfeswillen machte sich die Angst in ihm breit. Er war unfähig, sich zu bewegen. Nicht einmal wegschauen konnte er.
Dann knallte es laut hinter Victor. Der Knall riss ihn aus seiner Starre. Während er wieder in Deckung ging, sah er kurz ein Objekt aufblitzen, welches zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch schoss und mit Wucht in den Panzer einschlug. Kurz darauf explodierte der Panzer in einem Feuerball. Victor sah, wie die Explosion einige Soldaten, die zu nahe am Panzer standen, von den Füßen riss und wegschleuderte.
Ein Jubel brandete aus den Reihen der Verteidiger auf. Die Panzerabwehrkanone, welche die Einheit hinter den Bäumen versteckt und mit Büschen getarnt hatte, hatte den Panzer direkt im Munitionslager erwischt.
„Nicht nachlassen, Männer!“, rief der Offizier über den Jubel hinweg. „Zeigen wir denen, mit wem sie sich anlegen!“
Das ließ auch Victor sich nicht zwei Mal sagen. Die Zerstörung des Panzers hatte neuen Mut in die Reihen der Soldaten gebracht, ihnen neue Kraft gegeben. Und das ließen sie nun auch die Soldaten des Fürsten spüren.
Ein Feind nach dem anderen fiel unter dem Beschuss der Verteidiger, während die Gegenwehr immer weiter nachließ.
Die Zerstörung des Panzers muss ihren Mut gebrochen haben, mutmaßte Victor, während er erneut hinter dem Felsen Deckung suchte und seine Waffe nachlud.
„Sie ziehen sich zurück!“, rief plötzlich einer der Soldaten. „Schaut, sie fliehen!“
Victor spähte über den Felsen und konnte es nicht fassen. Er sah, wie einige der Soldaten des Fürsten ihre Verwundeten in Deckung brachten und sich in den Wald zurückzogen.
Erneut brandete der Jubel unter den Männern auf. Keiner von ihnen konnte glauben, dass sie es geschafft hatten.
Doch gerade, als der Jubel sich legte, hörten sie auf ihrer Seite des Flusses das Aufheulen mehrerer starker Motoren.