Irgendetwas stimmte nicht. Das war mein erster Gedanke, als ich den großen Besprechungsraum betrat und mich umschaute. Normalerweise war hier viel los. Soldaten, Adjutanten und Menschen vieler anderer Ränge waren hier beschäftigt dafür zu sorgen, im Krieg die Oberhand zu behalten und die nächsten Schritte zu planen, um diesen so schnell wie möglich zu beenden. Doch heute war der Raum beinahe wie ausgestorben. Als Erstes fiel mir der Minister auf. Wie üblich saß der Vertreter des Generals persönlich auf einem großen, bequemen Stuhl am Kopfende des langen Tisches, auf dem viele Karten und Briefe – wahrscheinlich Nachrichten von den Fronten, aktuelle Positionen und Ereignisse – lagen, doch dieses Mal fiel kaum Licht auf ihn. Er wirkte wie eine Schattengestalt. Mit etwas Abstand jeweils zu seiner Linken und zu seiner Rechten standen zwei Offiziere, die sich leise miteinander unterhielten und dabei mit ihren Fingern auf die Karten zeigten und die Frontverläufe diskutierten. Anscheinend war es ein hitziges Gespräch, da keiner den anderen wirklich aussprechen ließ und sie sich immer gegenseitig ins Wort fielen.
Ich räusperte mich, als ich mich ihnen näherte und sie grüßte. „Guten Tag, die Herren. Ich habe eine Nachricht bekommen, dass wir eine ungeplante Konferenz haben?“
„Ah, da sind Sie ja, Herr Sekretär“, antwortete eine mir vertraute, aber unliebsame Stimme. „Sehr schön, dann können wir ja beginnen.“
Alex Bristol, der etwas untersetzte Adjutant des Ministers, schälte sich beinahe wie ein Geist aus dem Schatten neben dem Minister und zeigte wie stets sein falsches Lächeln, als er einen Stapel Dokumente auf den Tisch legte und seine Brille auf der krummen Nase zurechtrückte.
„Mister Bristol“, grüßte ich ihn, ebenfalls gespielt freundlich, zurück. „Natürlich können wir beginnen, aber es wäre wirklich freundlich, wenn mir jemand erklären könnte, was diese ganze Geheimnistuerei zu bedeuten hat. Warum dieses spontane Treffen, dazu noch in diesem, nun ja, nennen wir es „ausgewählten“ Kreis? Und seit wann übernehmen Sie das Wort? Ich muss zugeben, das Ganze kommt mir etwas seltsam vor. Dazu noch dieses kleine Schreiben, welches mir der Bote überbrachte.“ Ich griff in die Innentasche meines Jacketts und holte den kleinen, gefalteten Brief hervor.
„Das lässt sich alles ganz einfach erklären“, meinte der Adjutant leichthin und schaute mich über seine Brillengläser hinweg an. „Der Minister fühlt sich heute nicht so gut, muss aber trotzdem an der Besprechung teilnehmen, um dem General unsere Entscheidungen persönlich zu überbringen. Deshalb übernehme ich heute das Wort, doch seien Sie sich versichert, dass ich ausschließlich in den Worten des Ministers selbst spreche.“ Er räusperte sich und begann mit einem kleinen Messer die ersten Umschläge zu öffnen, während er weitersprach. „Und diese Geheimnistuerei, wie Sie es nennen Herr Sekretär, ist leider nötig, weil sich uns zugetragen hat, natürlich aus einer vertraulichen Quelle, dass wir einen Spion unter uns haben.“
„Einen Spion?“, fragte der Offizier, der direkt neben Bristol stand, mit echter Überraschung in seinen Worten.
„Wie soll das möglich sein?“, brauste der andere Offizier auf. „Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind-“
„Allem Anschein nach nicht sicher genug“, unterbrach Bristol den Offizier barsch und bedachte diesen mit einem strengen Blick, welcher den Offizier zum Schweigen brachte. „Das würde auch erklären, weshalb der Überfall auf die vorgeschobene Basis und das Fahrzeuglager des Fürsten vor einigen Tagen so phänomenal gescheitert ist. Meinen Sie nicht auch, Herr Sekretär?“
Das würde meine Arbeit erheblich erschweren, dachte ich mir, blieb nach außen hin aber besonnen.„Sie meinen sicherlich den großen Waldbrand? Ja, den Bericht habe ich bereits gelesen.“
„Gut, dann sind Sie ja informiert.“
„Deshalb auch diese kleine Versammlung“, mutmaßte ich, und der Adjutant nickte bestätigend.
„Wir können nicht zulassen, dass noch mehr unserer Pläne dem Fürsten in die Hände fallen. Da wir aber nicht wissen, wer dahinter stecken könnte, haben wir uns entschieden, nur Personen zu dieser Konferenz zu holen, denen wir vertrauen. Und jetzt lassen Sie uns keine Zeit verlieren und mit der Besprechung beginnen.“
Der Adjutant reichte mir und den Offizieren einige der Dokumente, die er gerade geöffnet hatte. Aus seiner Aktentasche, die neben ihm auf dem Boden stand, holte er einen kleinen Zeigestock und ließ ihn auf eine rote Markierung auf der großen Landkarte vor sich auf dem Tisch knallen. Alle Blicke richteten sich auf den Punkt.
„Was sie hier sehen, meine Herren, ist die Wüste im südlichen Teil des Fürstentums. Wie sie aus den Dokumenten, die ich ihnen gerade gab, entnehmen können, fallen unsere Soldaten an dieser Grenze stetig weiter zurück. Einerseits liegt es an der schlechten Position, die wir beziehen mussten, denn wir müssten von hier unten“, er zog eine lange Linie weiter in den Süden, „unsere Soldaten über das Wasser versorgen, auf der anderen Seite kann der Fürst seine Soldaten über die Straßen hier oben im nördlichen Teil versorgen.“
„Ja, soweit ist uns das schon bekannt, Mister Bristol“, antwortete der Offizier neben dem Adjutanten. „Wir haben bereits versucht, einen Vormarsch auf die Front zu wagen, aber die feindlichen Soldaten verfügen über genug Munition und Waffen, um uns wieder und wieder zurückzudrängen.“
„Da liegt der Punkt, Offizier. Und genau das wollen wir ändern. Reichen Sie mir bitte mal den blauen Stift, Herr Sekretär.“
Ich reichte ihm den blauen Stift und fragte mich gleichzeitig, wie sie die Situation verändern wollten. Das Land verjüngte sich zum Süden hin sehr weit, und das Wasser umschloss es überall, außer eben im Norden, wo die Straßen entlang führten. Ich beobachtete, wie Bristol einen kleinen Kreis recht weit im Norden einzeichnete.
„Dort“, setzte er seine Erklärung fort, „fahren beinahe täglich die Versorgungskonvois des Fürsten zur Front und bringen den Soldaten Nachschub. Dieser kleine, grüne Bereich hier, das ist ein kleines Waldstück. Laut den Spähern stehen die Bäume hier sehr dicht, und die Straße verläuft kurvenreich. Wenn wir es also schaffen, dort einen Stoßtrupp zu verstecken, der die Konvois überfällt und somit die Versorgung der Soldaten an der Front unterbindet, können unsere Truppen vorstoßen und die Streitkräfte des Fürsten zurückdrängen.“
„Das klingt plausibel“, stimmte ich zu und prägte mir die Position des Hinterhalts ein. „Haben wir denn Truppen, die dafür geeignet sind? Ich glaube kaum, dass die Konvois ohne Schutz fahren.“
„Daran haben wir bereits gedacht. Unsere Späher berichten von leichten Transportern, die den Konvoi begleiten. Allem Anschein nach rechnet man dort nicht mit einem Hinterhalt, da die Front weiter im Süden liegt.“
„Ich kann ebenfalls noch Soldaten erübrigen, die den Stoßtrupp unterstützen können. Außerdem können wir in der Nähe einen Transporter stationieren, der die Versorgungsgüter an der Front vorbei zu unseren Kräften schleust“, bekräftigte der Offizier auf der anderen Seite des Tisches den Plan.
„Gut, dann ist es so beschlossen.“ Bristol richtete seinen Blick auf mich. „Ich möchte, dass Sie den Befehl an unsere Truppen dort übermitteln.“
„Natürlich“, versicherte ich ihm. „Die Konferenz ist damit beendet?“
Der Adjutant nickte, und ich verließ den Besprechungsraum. Es wurde Zeit, meinen eigentlichen Auftrag zu erfüllen.
Wenig später betrat ich mein recht gemütlich eingerichtetes Zimmer und schloss die Tür sorgsam hinter mir. Niemand durfte herausfinden, was ich gleich machen würde, also schloss ich die Tür zur Sicherheit doppelt ab und trat vor mein großes Bücherregal, welches eine ganze Wand einnahm. Ich strich mit der Hand vorsichtig über die Buchrücken, bis ich das richtige Buch fand. Langsam kippte ich es zu mir, bis ein Klicken ertönte und das Regal sich öffnete.
Dahinter lag ein kleiner Raum, in dem nicht mehr als ein kompakter Holztisch, ein Stuhl und ein Funkgerät standen. Ich setzte mich auf den Stuhl und stellte das Funkgerät auf die richtige Frequenz ein. Unter dem Tisch holte ich ein Blatt hervor, auf dem für das ungeübte Auge nur wirre Zeichen standen. Es war ein Code, mit dessen Hilfe ich die Pläne zum Fürsten persönlich übermitteln würde.
„Was für eine Schande“, erklang unerwartet die Stimme des Adjutanten Bristol hinter mir. Ich wirbelte herum, erstarrte aber vor Schreck, als ich direkt in den Lauf seiner schallgedämpften Pistole schaute. Obwohl, eigentlich ist es keine Schande. Ich konnte Sie noch nie leiden.“
Bristol packte mich am Kragen und warf mich zurück in meinen Raum, wo ich zu Boden fiel, direkt vor die Füße von zwei bewaffneten Soldaten, die ihre Gewehre auf mich gerichtet hatten.
„Irgendwie hatte ich gehofft, dass Sie der Verräter sind, Herr Sekretär. Ihre hochnäsige Art in den Besprechungen hing mir schon lange zum Hals heraus. Aber wissen Sie was?“ Bristol ging vor mir in die Hocke und schaute mich mit einem widerlichen Lächeln an. “Das hat ja nun ein Ende.“
Panik machte sich unweigerlich in mir breit, ich schaute nach einer möglichen Fluchtoption, aber die Soldaten versperrten mir jeglichen Fluchtweg.
„Denken Sie gar nicht an eine Flucht, Herr Sekretär. Sie werden hierbleiben und tun, was ich Ihnen sage.“
„Nichts werde ich Ihnen verraten!“, rief ich, dann durchzuckte ein brennender Schmerz mein linkes Bein. Ich stöhnte laut auf und zog das Bein heran, eine kleine Blutspur war auf dem Teppich zu sehen, auf dem ich lag. Das Schwein hatte mir ins Bein geschossen!
„Im Endeffekt ist es egal, ob Sie es uns verraten. Aber das ist es gar nicht, was ich von Ihnen will.“ Hohn triefte aus Bristols Worten, als er von oben auf mich herabschaute. Ich biss die Zähne zusammen, weil ich ihm nicht noch mehr Genugtuung verschaffen wollte.
„Sie werden diesen Code niemals verstehen“, presste ich hervor und spuckte ihm vor die Füße. Mehr konnte ich in meiner Lage nicht mehr machen.
„Oh, unsere Leute werden ihn früher oder später knacken. Aber für Sie habe ich eine andere Aufgabe.“ Wieder packte er mich am Kragen und zog mich auf die Beine, der Schmerz zuckte erneut durch mein Bein, ich biss die Zähne stärker zusammen. „Sie werden jetzt genau das machen, was Sie machen wollten. Und zwar unsere Pläne dem Fürsten übermitteln.“ Er grinste breit, als er mein Unverständnis in meinem Blick sah, den ich ihm zuwarf. „Überrascht, wie ich sehe? Gut.“ Er zerrte mich unsanft an das Funkgerät und presste mich auf den Stuhl.
„Warum soll ich die Pläne übermitteln?“, fragte ich, und ich war wirklich verwirrt. Wie konnte er das wollen? Das würde seinen Truppen doch mehr Schaden zufügen als vorher. Es sei denn …
„Ah, wie ich in Ihren Augen sehe, haben Sie es verstanden. Das Ganze ist eine Falle. Dafür war die Besprechung.“
„Und weshalb sollte ich die Pläne jetzt noch übermitteln, wo Sie mir verraten haben, was das Ganze soll?“
„Weil Sie an Ihrem Leben hängen. Sie denken, Sie arbeiten für ein höheres Ziel, aber ich kenne Sie und die Art Mensch, die Sie sind. Sie fühlen sich mächtig, solange Sie unerkannt sind, aber sobald jeder weiß, wer Sie sind, und Ihr Leben davon abhängt, werden Sie alles tun, um Ihr Leben zu behalten.“
Ich überlegte, was ich darauf erwidern konnte. Ich wollte ihn dafür auslachen, solche Vermutungen anzustellen, ihm ins Gesicht spucken und sagen, dass er sich seinen Plan sonst wo hin stecken konnte, aber ich konnte es einfach nicht. So sehr es mich auch quälte es zuzugeben, aber er hatte recht. Und ich wusste, dass ich verloren hatte.
„Na los, machen Sie schon, Herr Sekretär. Wir haben auch bereits ein hübsches neues Zimmer für Sie in unserem Keller vorbereitet. Es ist zwar nicht so geräumig wie dieses hier, aber es wird Ihren neuen Anforderungen sicherlich gerecht werden.“
Die Soldaten im Hintergrund lachten über seinen dummen Spruch, und ich musste mich geschlagen geben. Der Schmerz in meinem Bein wurde schlimmer, unaufhörlich tropfte das Blut auf den grauen Steinboden, und ich wusste, dass ich nur überleben würde, wenn ich machte, was sie sagten. Also machte ich mich an die Arbeit und übermittelte dem Fürsten die Pläne. Ich war ein Feigling.