Matthew schaute gedankenverloren zu den Bäumen der Allee auf, durch die er gerade ging. Er liebte den Herbst. Die frische, sich langsam abkühlende Luft, die überall für Abkühlung sorgte. Auch den leichten Regen, der einsetzte und gut für den Boden war, da er nur leicht herab nieselte und so in den Boden einziehen konnte. Und vor allem das Farbenspiel des Herbstes.
Er genoss die Nachmittage, an denen er durch die Straßen seines Dorfes ging und ringsherum von den verschiedensten Farbtönen umgeben war. Vor allem so früh im Herbst, wo noch sattes Grün an den Bäumen und Pflanzen zu sehen war, welches langsam blasser wurde, und mit roten und braunen Farbtönen durchdrungen wurde, bis dann schließlich die rostbraunen Blätter von den Bäumen fielen und die Straßen schmückten. Und es war endlich wieder die Zeit Kastanien zu sammeln und sie mithilfe von Zahnstochern in schöne Tiere zu verwandeln. Das war eines seiner liebsten Hobbys, und er fand es schade, dass er damit nach dem Herbst immer so lange warten musste.
Doch jetzt gerade konnte der siebzehnjährige Junge das Farbenspiel des Herbstes nicht in Ruhe genießen. Lag es vielleicht an dem Lärm, den die Panzer verursachten, neben denen er marschierte? Oder weil er so angespannt war? Immerhin waren sie in feindlichem Gebiet unterwegs, doch bisher war keiner der Aufklärer wiedergekommen. Sie waren blind, doch sie hatten keine Zeit, um auf die Aufklärer zu warten. Der General hatte einen Vorstoß noch in diesem Herbst befohlen. Dieser war jedoch nur mit einem Gewaltmarsch zu schaffen. Den „Herbstmarsch“, wie sein Hauptmann das Unterfangen nannte.
Hierbei zeigte der Herbst auch seine negativen Seiten. Der Regen peitschte ihm, vom kalten Wind angetrieben, in sein Gesicht und auf seine klamme Uniform, die überall mit kaltem, braunem Matsch bedeckt war. Auf dem Weg über eine ungedeckte Wiese hatten sie über den vom Starkregen aufgeweichten Boden und das hohe Gras robben müssen, bis sie auf der anderen Seite angekommen waren. Die Straße war durch das Laub rutschig, und mehr als ein Mal war er ausgerutscht und in eine Pfütze gefallen. Doch jedes Mal hatte er sich wieder aufgerappelt. Wobei, er hatte ja keine Wahl.
Wehmütig dachte Matthew an die Zeit Zuhause zurück.
Vor einem Jahr hatte er gerade auf der Straße ein paar Kastanien gesucht, als er die Soldaten hatte kommen sehen. Er erinnerte sich noch ganz genau, dass sich Angst in ihm ausgebreitet hatte, als er den Transporter vor seiner Haustür hatte halten sehen. Dort saßen bereits weitere Jugendliche und einige Erwachsene auf der Ladefläche, alle mit gesenktem Blick und stillschweigend.
Instinktiv hatte er sich hinter einem hohen Busch versteckt und über dessen Rand gespäht. So konnte er die zwei Soldaten beobachten, die aus dem Transporter ausstiegen, das Tor zum Haus seiner Eltern öffneten und dort klingelten.
Er erinnerte sich noch ganz genau, dass seine Mutter in dem Moment, als sie die Soldaten gesehen hatte, in Tränen ausgebrochen war. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass sie ihn suchten. Für den Krieg.
Im Radio hatten sie immer wieder von den Camps berichtet, in denen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in einer Art Eilverfahren zu Soldaten für den Krieg ausgebildet wurden. Für einen Krieg, der ihm so fern schien, und doch plötzlich in eine greifbare Nähe gerückt war.
Wäre er etwas vorsichtiger gewesen, hätte er geschaut, wo er hintrat, dann hätte er sich vielleicht in seiner kleinen Hütte weiter unten am Fluss verstecken können. Dort hätte er gewartet, bis die Soldaten wieder abgezogen wären.
Doch er war nicht vorsichtig. Ein lautes Knacken ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Ungläubig schaute er nach unten auf den trockenen, gebrochenen Ast, auf den er getreten war und dann wieder zu den Soldaten.
Da er nicht allzu weit von seinem Haus versteckt war, hatten diese das Geräusch natürlich auch gehört.
Er hörte seine Mutter ihm noch zurufen, er solle schnell weglaufen. Und genau das tat er auch. Verängstigt und voller Panik lief er die Straße herunter, doch die Soldaten hatten ihn mit ihrem Transporter schnell eingeholt und zerrten ihn schließlich auf die Ladefläche. Er konnte sich nicht einmal mehr von seinen Eltern verabschieden. Mit tränennassen Augen schaute er zu seinem Elternhaus zurück. Zu seinem Vater, der seine Mutter festhielt, die ihrem Sohn hinterherlaufen und ihn von dieser Ladefläche holen wollte. Die ihm noch etwas hinterherrief, was er aber nicht mehr verstehen konnte. Und er schaute auf die Kastanien, die er gerade noch gesammelt hatte und die nun auf der Straße verstreut lagen.
Das war der letzte Herbst, den er als Jugendlicher erlebt hatte. Das harte Training über das letzte Jahr hatte ihn zu einem Mann gemacht, zumindest körperlich. Sein inneres Ich wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder nach Hause zu kommen, wieder die frische Herbstluft in seiner Heimat atmen zu können, anstatt die Abgase eines grässlichen Metallungeheuers, welches nur Zerstörung brachte. Wieder diese Farbenpracht der Bäume und Pflanzen zu sehen, anstatt verletzte und tote Soldaten auf einem Schlachtfeld nach dem anderen.
Matthew fühlte sich von Minute zu Minute schlechter. Sein Magen rebellierte schon den ganzen Marsch lang.
Sein Blick ging zu beiden Seiten der Allee, wo sich die weiten Ebenen des Landes ausbreiteten. Nur vereinzelt standen Bauernhäuser in der Ferne.
Wo blieb nur die Aufklärung?
Niemand sah das Aufblitzen des Zielfernrohrs in einem Fenster der Bauernhäuser. Ein Schuss löste sich, und als die Soldaten den Knall hörten, der mit kurzer Verzögerung folgte, geriet die Marschordnung durcheinander.
Nur Matthew, dessen Herz von der Kugel des Scharfschützen durchbohrt worden war, bekam all das nicht mehr mit.
Seine Welt verwandelte sich in ein tiefes Schwarz, in der weder Jahreszeiten noch andere weltlichen Dinge Einfluss hatten.