„Liebster Bruder,
drei Mal habe ich dir bereits geschrieben, und drei Mal hast du mit Schweigen geantwortet. Trotzdem schreibe ich dir erneut in Zeiten größter Not.
Wir mussten fliehen, Bruder. Unsere Heimatstadt wurde von den Truppen des Fürsten durch einen plötzlichen Angriff überrannt.
Erinnerst du dich noch an Chipell, den Nachbarn von der anderen Straßenseite? Der von der Stadtwache? Ich wusste immer, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber er scheint uns verraten zu haben. Wie sonst sollten die Soldaten plötzlich so weit vorgerückt sein? Du weißt, dass er für das Tor verantwortlich war. Bestimmt hat er sich nur einen Vorteil erhofft, wenn er die Seiten wechselt.
Unsere Eltern haben es nicht geschafft. Um uns Zeit für die Flucht zu verschaffen, hatten sie sich dem Feind entgegengestellt, als die Soldaten in unser Haus stürmten. Mein Mann wurde während der Flucht angeschossen. Jetzt gerade versucht man sein Bein zu retten, doch es sieht nicht gut aus. Aber zumindest meiner kleinen Tochter geht es gut.
Nachdem wir es über die Grenze geschafft hatten, sagten sie uns hier aber, dass sie uns nicht in die Städte lassen würden. Angeblich, weil sie selbst nicht genug Vorräte für alle haben, doch ich glaube, das ist einfach nur eine Ausrede. Vermutlich dulden sie keine Ausländer, selbst in solchen Zeiten nicht. Jetzt sitzen wir hier in einer Art Bunker, viel zu nahe an der Front.
Jeden Tag kommen neue Meldegänger hier her. Ich verstehe nicht alles was sie sagen, aber es klingt, als würden die Soldaten dieses verfluchten Fürsten weiter in die Städte vorrücken. Verzeih mir mein Fluchen, denn ich weiß, dass es sich nicht gehört, doch ich weiß weder ein noch aus.
Raub, Mord und Vergewaltigungen, eine Schneise der Vernichtung lassen sie hinter sich zurück. Bei der Bombardierung nehmen sie keine Rücksicht auf Zivilisten. Anscheinend haben sie sämtliche Versuche, sie an diesem einem Fluss aufzuhalten, erfolgreich zerschlagen.
Aber auch hier haben wir große Sorgen und Probleme. Die Rationen werden immer weiter gekürzt, der Nachschub bleibt aus, und Krankheiten aufgrund mangelnder Hygiene breiten sich langsam aus.
Auffällig ist, dass immer mehr Frauen verschwinden. Ich will es nicht glauben, doch hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, dass Frauen sogar an die Front geschickt werden, wohl, um die Zahl der zu stopfenden Mäuler zu senken. Nur jene, die von „Wert“ sind, wie es heißt, dürfen hier bleiben. Glücklicherweise konnte ich bereits beweisen, dass ich ein Geschick für technische Arbeiten habe, dank dir und deinen ganzen Lektionen über Maschinen und Mechanismen in unserer Jugend. Trotzdem werde ich wachsam bleiben.
Es wird immer schwerer auszuhalten. Die Wände scheinen immer näher zu rücken, und tagsüber hält uns der Beschuss der Artillerie wach, nachts sind es die fallenden Fliegerbomben, die das Land erschüttern.
Einige sind bereits in den Gängen verschüttet worden, die zusammenbrachen, als die Bomben fielen, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis uns allen dasselbe Schicksal blüht.
Bruder, ich gebe alles, um stark zu bleiben und durchzuhalten, unseretwillen und für meine Tochter, aber ich bitte dich, erneut, komm uns zur Hilfe, wenn du das liest, und bitte schicke endlich eine Antwort, ich mache mir schreckliche Sorgen um dich.
Wundere dich bitte nicht, dass ich dir den Brief mit meiner Taube Arita schicke, doch ich traue den offiziellen Postwegen nicht mehr.
Ich bete für dich und für uns, Gott möge uns beistehen.
In Sorge und Angst,
deine Schwester Aubrey“
Der Beamte setzte seine Lesebrille ab, beugte sich vor und aktivierte seine Sprechanlage, um seine Sekretärin zu bestellen.
Er hielt ihr den Brief bereits hin, als sie sein Büro betrat.
„Geben Sie diesen Brief bitte Miss Killin. Sagen Sie ihr, die Schwester des Majors hat wieder einmal geschrieben. Sie soll diesen Brief schönen und darauf achten, ihn anschließend mit derselben Brieftaube weiterleiten, mit der dieser Brief hier ankam. Oh, und veranlassen Sie, dass Miss Killin den Teil mit dem Beten so belässt, der Major ist meines Wissens nach ein sehr gläubiger Mann, wenn ich die letzten ihrer Briefe richtig interpretiert habe.“
Die Sekretärin nickte und verließ das Büro wieder.
„Wie gut, dass wir die Nachricht abfangen konnten“, sagte der Beamte leise zu sich selbst und nahm sich einen weiteren Brief vom Stapel. „Wir können nicht verantworten, dass unsere Soldaten irgendwie auch nur ansatzweise abgelenkt werden.“
Seufzend öffnete er den neuen Brief. „Dann wollen wir mal.“ Und er begann zu lesen.