„Achtung, Feindfeuer!“
Oberst Wenzel machte sich so klein wie möglich und kauerte sich hinter die Sandsäcke. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment schlugen die Kugeln in seine Deckung ein und zwangen ihn, weiter in der kauernden Position zu bleiben, in der Hoffnung, dass keines der Geschosse einen Weg zwischen oder durch die Säcke hindurch finden würden.
Wie viele Wellen müssen wir denn noch zurückschlagen?
Eigentlich sollte der Oberst in seinem Lager sitzen und die Gefangenen beaufsichtigen. Doch nachdem der Feind die Zentrale ausgeschaltet hatte, hatte er sich der Kompanie angeschlossen, auf die er während seiner Flucht gestoßen war. Aufgrund seines Ranges hatte man ihm die Befehlsgewalt übertragen, doch die Mission der Kompanie blieb dieselbe: Die Eroberung des Hügels durch den Feind mit allen Mitteln verhindern. Und so lag er hinter den Sandsäcken, die nur spärlich gegen den Beschuss schützten, und schaute durch das Visier des Karabiners auf die feindlichen Soldaten, die seit Sonnenaufgang versuchten, diesen Hügel zu besetzen.
Mittlerweile hatte er aufgehört zu zählen, wie viele Feindwellen sie schon zurückgedrängt hatten, doch ihm war klar, dass sie das nicht mehr lange durchhalten konnten.
Mit jedem neuen Angriff wurden mehr und mehr seiner Männer getötet und die Reihen der Verteidiger immer weiter ausgedünnt.
Seine letzte Hoffnung war der Funkoffizier, der oben auf dem Hügel schon seit Stunden versuchte, das Hauptquartier zu erreichen. Nur dann würden sie vielleicht Verstärkung geschickt bekommen.
Oberst Wenzel war zutiefst schockiert gewesen, als er erfahren hatte, mit welcher Härte und Schnelligkeit die Feinde in sein Heimatland vorgedrungen waren. Und das, obwohl der Fürst erst hatte verkünden lassen, dass die Aussichten auf einen baldigen Endsieg gut stehen würden.
Alles nur Propaganda. Lügen. Und jeder hat ihm geglaubt.
Doch er wusste, dass es nun alles egal war. Er war Teil dieses Krieges, den er Anfangs mit aller Kraft unterstützt hatte. Und auch, wenn dieser Vorfall ihm nun die Augen geöffnet hatte, so hatte er keine Chance mehr, aus dem Krieg zu entkommen. Er wusste, dass der Traum ausgeträumt war. Nun befand er sich in der harten Realität, die ihm drei Möglichkeiten offen hielt, die er alle nicht mochte.
Natürlich hätte er versuchen können zu fliehen.
Aber wohin?
Er wusste bereits, dass die feindlichen Soldaten so gut wie überall waren und es keinen Platz zum Verstecken gab. Außerdem hatte er sich geschworen, bis zum Ende ehrenhaft zu kämpfen. Und daran würde er sich auch halten.
Natürlich hätte er sich auch ergeben können. Doch ihm war bewusst, dass, egal für welche Seite er sich entschieden hätte, ihm nur ein qualvolles Ende bevorgestanden hätte. Die Gefangenen wurden gefoltert und beseitigt.
Wie Versuchstiere.
Also blieb ihm nur der Kampf. Es war schon sehr lange her, dass er selbst im Feldeinsatz war. Nach seinem raschen Aufstieg in den Rängen war er schnell mit der Aufgabe betraut worden, die Aufsicht über eines der wichtigsten Gefangenenlager zu übernehmen. Und diese Aufgabe hatte er mit Freude angenommen, der er war des Krieges müde geworden.
Ich habe viele Schlachten an der Front geschlagen, habe viele Menschen, darunter auch gute Freunde, sterben sehen. Jetzt will ich einfach nur meine Ruhe haben.
Der Posten und die ständige Propaganda des Fürsten, dass die Feinde immer weiter zurückgeschlagen würden, hatten ihm genau das in Aussicht gestellt; Ruhe.
Doch nun befand er sich erneut an der Front.
Und wieder sterben gute Männer, die ihre Heimat verteidigen gegen einen scheinbar unbezwingbaren Gegner.
Wo er auch gerade hinsah, sah er Menschen, tapfere Männer, verletzt am Boden liegen. Blutend, sterbend und nach Hilfe rufend, während der Feind sich immer weiter den Hügel hoch kämpfte und in dessen Augen der Oberst den Hass brennen sehen konnte, sobald er durch das Visier schaute.
Eine Granate explodierte nur ein paar Meter entfernt von ihm und ließ ihn sich weiter zusammenkauern. Seine Ohren klingelten laut, in seinem Kopf dröhnte es.
Vor sich hörte er die Kampfschreie des Feindes, während hinter ihm die MGs aus den Nestern feuerten, um den Gegner zu dezimieren und in die Flucht zu schlagen.
Wir müssen uns zurückziehen.
Wenzel rappelte sich vorsichtig auf, seine Sicht verschwamm vor seinen Augen, doch er hielt sich auf den Beinen. „Rückzug!“, rief er dabei so laut er konnte und hoffte, dass die Männer ihn über den ohrenbetäubenden Lärm der Schlacht hören konnte. „Alle auf den Hügel! Los!“
Aus dem Augenwinkel heraus konnte er wahrnehmen, dass die Männer seinem Befehl folgten, nach und nach ihre Stellungen aufgaben und sich weiter den Hügel hinauf zurückzogen.
Auch Oberst Wenzel lief so schnell er konnte den rutschigen Weg hinauf, während die Feinde unnachgiebig auf ihn und seine Soldaten feuerten.
Meine Soldaten. An diese Verantwortung muss ich mich erst wieder gewöhnen.
Auf dem Hügel angekommen warf sich der Oberst sofort hinter die Sandsackbarrikade und eröffnete das Feuer auf die herannahenden Feinde. Der Auftrag blieb bis zum Ende, die Eroberung des Hügels durch dein Feind zu verhindern, und er hatte vor, genau das zu erreichen.
„Oberst!“ Der Funkoffizier, ein junger Mann, vielleicht Ende Zwanzig, wenn Wenzel das richtig einschätzte, kam geduckt auf ihn zu. Als er den Oberst erreichte, lehnte er sich mit eingezogenem Kopf gegen die Sandsäcke. „Oberst, wir haben Meldung vom Hauptquartier erhalten.“
„Berichten Sie!“ Wenzel schoss dabei weiter auf die Feinde, traf dabei auch einige vergrabene Minen und verhinderte so, dass die Feinde zu schnell vorstoßen konnten.
Die Explosionen, zusammen mit dem Gewehrfeuer und dem Schreien von getroffenen Männern, waren so laut, dass er den Bericht des Offiziers kaum verstehen konnte.
„Das Hauptquartier hat gemeldet, dass es uns Verstärkung schicken wird. Diese soll dann den Hügel reinigen!“
„Bitte was?!“, rief Wenzel entsetzt. Das muss ein Missverständnis gewesen sein!
„Das ist doch gut, oder?“, fragte der Offizier, sichtlich verwirrt von der Reaktion seines Vorgesetzten. „Wir halten sonst nicht mehr lange durch!“
„War das der genaue Wortlaut der Meldung?“, fragte Wenzel mit drängendem Tonfall. „Haben sie genau das gesagt?“
„Ja, Oberst! Und sie soll schon in zehn Minuten eintreffen! Unglaublich, oder? Ich frage mich, woher sie so schnell kommen sollen.“
Der Oberst spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog.
Das war es dann also.
„Ist alles in Ordnung, Oberst?“, fragte der Offizier, doch Wenzel winkte nur ab.
„Greifen Sie sich ein MG und verteidigen Sie den Süden des Hügels, bis ich andere Anweisungen durchgebe!“
Der Offizier nickte und folgte dem Befehl sofort.
Die Gedanken der Oberst wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Der Offizier wusste es vielleicht nicht, aber das, was er für eine Verstärkung hielt, war ein Aufräumkommando.
Ein logischer Schritt. Wir haben nicht genug Soldaten oder mechanische Unterstützung, also schicken sie die Bomber, um den Hügel zu reinigen. Wenn wir ihn nicht halten können, soll ihn niemand haben.
Deshalb überraschten ihn auch die zehn Minuten nicht. Flugzeuge mussten keine langen Umwege zu ihrem Ziel nehmen.
Er schaute erneut durch das Visier und gab vereinzelte Schüsse auf den Feind ab, doch plötzlich erschien es ihm alles sinnlos. Schon gleich würde von dieser strategisch wichtigen Position und den Soldaten, egal ob Freund oder Feind, nichts mehr übrig sein. Die Bomber würden dafür sorgen, dass nichts den Angriff überleben würde. Er und seine Männer waren dabei Kollateralschäden.
Nach so vielen Jahren im Dienst endet es also auf diese Weise.
Überrascht bemerkte er, dass er weder Wut noch Trauer empfand. Er fühlte sich leer, aber gleichzeitig auch befreit.
Nicht nur, dass er nicht in Gefangenschaft enden würde, sonder er konnte bis zum tatsächlichen letzten Atemzug seine Mission erfüllen.
Das ist es doch, was zählt. Oder? Die Mission geht vor?
Er war sich selbst nicht mehr so sicher, auch, wenn das die erste Lektion war, die er auf der Akademie gelernt hatte. Die Mission musste erfüllt werden, egal um welchen Preis.
Als er zum Horizont blickte, wusste er, dass die Zeit gekommen war, alle Zweifel abzulegen. Denn die kleinen, schwarzen Punkte am Himmel waren die Bomber, die sich ihrem Ziel näherten.
Oberst Wenzel stand auf, straffte seine Uniform und stellte sich in die Mitte der kleinen Befestigung, die sich die Soldaten aus Sandsäcken gebaut hatten.
Dort ging er an eine der Holzkisten, auf denen groß „NACHSCHUB“ stand, öffnete sie und holte eine Granate in der Größe einer Spraydose hervor. Sobald er diese zündete, würde sie eine rote Nebelwand erzeugen. Diese würde den Bombern helfen, ihr Ziel zu definieren.
„Aufgepasst!“, rief er so laut er konnte. „Werft eure Rauchgranaten! Versperrt dem Feind die Sicht!“
Sichtlich irritiert kamen die Soldaten dem Befehl nach, zündeten ihre Rauchgranaten und warfen sie den Feinden entgegen.
Der weiße Rauch verteilte sich sofort, schloss die kleine Befestigung mit den Soldaten in sich ein und verlangsamte den Ansturm des Feindes.
Zwischendurch hörten sie vereinzelt Minen explodieren, wenn einer der Feinde sie versehentlich auslöste.
„Was ist los, Oberst?“, wollte der Funkoffizier wissen. Er hielt sich seine Schulter, unter seinen Fingern lief eine Blutspur entlang.
Der Krieg geht an niemandem spurlos vorbei wie es scheint.
„Verteilen Sie diese Rauchgranaten an die Soldaten, Offizier“, befahl Wenzel und deutete auf die Nachschubkiste.
„Ich verstehe nicht“, begann er, doch Wenzel brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
„Folgen Sie einfach dem Befehl!“
Sofort salutierte der Offizier und machte sich daran, dem Befehl Folge zu leisten.
Wenzel beobachtet das Prozedere und ließ dann die Soldaten zusammenkommen.
„Soldaten, das Hauptquartier schickt uns wie versprochen Unterstützung.“ Er hob die Hände, als er sah, wie sich Hoffnung in den Augen der Männer einschlich. „Aber es handelt sich um ein Aufräumkommando. Das bedeutet, es nähern sich jetzt, in diesem Moment, Bomber unserer Position. Diese werden den Hügel reinigen. Das heißt, es wird von diesem Fleck nicht das Geringste übrig bleiben bis auf verbrannte Erde!“
„Aber wir sind doch noch hier“, begehrte einer der Soldaten auf.
„Ruhe, Soldat!“, wies Wenzel ihn zurecht. „Ja, wir sind noch hier. Aber das Hauptquartier hat keine Verstärkung, die es uns schicken kann, um diesen Hügel zu halten. Hierbei handelt es sich um eine strategisch wichtige Position und es wurde beschlossen, dass es wichtiger ist, diesen Hügel nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen.“ Unmut machte sich spürbar breit, doch Wenzel sprach weiter. „Obwohl ich niemanden von Ihnen hier lange kenne und nur durch Zufall zu Ihnen gestoßen bin, sehe ich hier viele mutige Männer stehen, die bereit sind, alles für die Verteidigung ihrer Heimat zu geben. Und nun verlangt man von Ihnen allen das größte Opfer, das sie geben können. Doch mit diesem Opfer ist es Ihnen und mir möglich, unsere Familien und das Land, welches wir Heimat nennen, zu beschützen! Und nun will ich, dass Sie Aufstellung nehmen!“
Die Soldaten stellten sich in drei Reihen zu jeweils zehn Männern auf. Wenzel stellte sich schräg vor sie. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren war bereits zu hören.
„Zünden Sie die Granaten!“
Die Männer zogen die Zündstifte aus den Granaten und warfen sie in den Kreis aus Sandsäcken. Roter Nebel breitete sich um sie herum aus.
„Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie in der Heimat als Helden gefeiert werden. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie in meinen Augen Helden ihres Heimatlandes sind!“ Damit salutierte Wenzel vor den Soldaten, die den Salut sofort erwiderten. „Und es war mir eine Ehre, mit Ihnen zusammen dem Wohl der Heimat gedient zu haben.“
Mit diesen Worten stellte sich Wenzel vor die Reihen der Soldaten, salutierte erneut und schaute zum Himmel.
Dort sah er schemenhaft durch den Nebel hindurch, wie die Flugzeuge, die sich fast über ihnen befanden, die Luken öffneten.
Dann fielen die Bomben.