Santino hörte etwas neben sich auf dem Boden aufkommen und warf sich mit einem Hechtsprung gerade noch rechtzeitig in den Graben. Er rollte sich ein, die Arzttasche fest an sich gedrückt, als die Granate hinter ihm explodierte und die Splitter knapp über seinem Körper in die aufgeschüttete Erde gejagt wurden, welche zusammen mit kleinen Steinen auf ihn hinabrieselten.
Langsam wagte er es wieder aufzuschauen. Um ihn herum kümmerten sich andere Sanitäter bereits um die Verwundeten, deren Schreie und Schmerzenslaute in seine Ohren drangen. Sein Körper zitterte, er spürte Angst und Adrenalin gleichermaßen durch seinen Körper fahren, wie sie sich in sein Herz fraßen und ihn zu lähmen versuchten. Reiß dich zusammen! Reiß dich zusammen!
Langsam setzte er sich mit dem Rücken gegen den Graben und versuchte seine Atmung zu kontrollieren, wie er es gelernt hatte. Langsam einatmen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Langsam ausatmen. Eins. Zwei. Drei. Vier.
Er spürte, wie sein Körper etwas ruhiger wurde. Seine Hände zitterten weniger, sein Herz raste nicht mehr. Aber das Adrenalin und die Angst blieben. Sie waren seine ständigen Begleiter, doch er wusste, dass das gut war. Die Angst ließ ihn vorsichtig handeln, solange er sie kontrollieren konnte. Und das Adrenalin schärfte seine Sinne, sonst hätte er die Granate sicher nicht wahrgenommen. Und das wäre sein Ende gewesen.
Er setzte sich auf und spähte über den Rand des Grabens. In weiterer Entfernung sah er das Aufblitzen des Mündungsfeuers der feindlichen Soldaten. Kugeln zischten durch die Luft, drangen mit dumpfen Geräuschen in die aufgewühlte Erde zwischen den Gräben und in die Körper der Soldaten ein.
„Sie werden bald vorrücken!“, hörte er einen Soldaten hinter sich rufen. „Wir müssen den Graben vor ihnen erreichen, koste es, was es wolle!“
Sein Blick richtete sich auf den nächsten Graben, ungefähr einhundert Meter vor ihm. Dort wurde er hinbeordert um die verwundeten Soldaten zu versorgen und, wenn möglich, raus zu bringen, bevor die Soldaten des Fürsten den Graben wieder zurückerobern konnten.
Das ist Niemandsland dort. Keine Deckung, weicher Boden auf dem man nicht vernünftig laufen kann, und andauernder Feindbeschuss.
Er spürte, dass er mit den Kräften am Ende war. Seit 3 Wochen kämpften die Streitkräfte des Ostens gegen die Soldaten des Fürsten, und ständig verschob sich die Frontlinie, mal zugunsten des Ostens, mal zu ihrem Nachteil. Es war ein Stellungskrieg, und nichts deutete darauf hin, dass dieser bald beendet sein würde.
Santinos Nerven lagen blank. Er wusste, dass er bisher nur durch Glück überlebt hatte, anders konnte er sich das nicht erklären. Aber irgendwann würde sein Glück ein Ende finden.
Nein, denk nicht daran. Konzentriere dich.
Seine Hände hielten den Griff seiner abgewetzten Arzttasche fest umklammert, und er versuchte fieberhaft seinen Körper dazu zu überreden, über den Rand des Grabens zu springen und einfach auf die andere Seite zu laufen.
„Vorrücken!“, rief plötzlich ein Soldat dicht neben seinem Ohr, und voller Unglaube sah Santino, wie eine Handvoll Männer genau das tat, woran er gerade dachte.
Die Gewehre fest im Griff, sprangen sie aus dem Graben hinaus, direkt in das Niemandsland, und stürmten voran.
Das blieb natürlich vom Feind nicht unbemerkt. Santino sah, wie sich die Läufe der feindlichen MG-Stellungen auf die Männer richteten und das Feuer eröffneten.
Einer nach dem anderen fiel durch das Feindfeuer, niemand erreichte das andere Ende des Weges. Es ist unmöglich. Niemand schafft das.
Jemand packte ihn von hinten und zog ihn auf die Beine, was ihn überrascht aufschreien ließ. Er wurde harsch herumgedreht und blickte einem Offizier direkt in die Augen.
„Aufstellen, Soldat! Du wirst mit der nächsten Welle laufen!“ Und schon wurde er zu einer Reihe anderer Soldaten geschoben, die auf das Signal zum Stürmen warteten.
„W-Was? Aber...“, stammelte Santino, während er versuchte, sich auf seinen weichen Beinen zu halten. Doch der Offizier schenkte ihm keine Beachtung. Das ist doch Wahnsinn!
„Aufstellen!“, brüllte der Offizier hinter ihm, und ein Ruck ging durch die Soldaten, die sich in drei Reihen aufstellten, ihre Gewehre im Anschlag. Das wird keiner schaffen!
Panik wallte in ihm auf und drohte seine Gedanken zu übermannen. Er drehte sich zu dem Offizier um und suchte nach den richtigen Worten.
„Haben Sie denn gerade nicht gesehen, was mit den Soldaten passiert ist, die versucht haben zu stürmen?“, rief er dem Offizier verzweifelt zu, doch dieser schaute ihn nur verächtlich an.
„Zurück in die Reihe, Soldat!“, herrschte er Santino an. „Oder ich lasse Sie vor das Kriegsgericht stellen!“
Das wäre vielleicht keine schlechte Idee. So würde ich mein Leben nicht sinnlos wegwerfen.
Bevor er etwas – vielleicht sehr Unüberlegtes – erwidern konnte, wurde er unsanft zurück in die Reihe gezogen. Natürlich war auch den anderen Soldaten ihre Anspannung anzusehen. Warum sagen sie nichts? Ist ihnen ihr Leben so egal?
Dann folgte auch schon der Befehl zum Stürmen, und ein weiterer Ruck ging durch die Reihen der Soldaten. Er stand in der zweiten Reihe, musste also mitlaufen, da sonst der Soldat hinter ihm ihn einfach mit geschoben hätte.
Kaum waren sie aus dem Graben, eröffneten die feindlichen MG-Stellungen das Feuer auf sie. Die Kugeln zischten an ihm vorbei, schlugen mit dem vertrauten dumpfen Laut in den Boden zu allen Seiten, ließen Erde und Dreck aufspritzen und ihm ins Gesicht fliegen.
Panisch rannte er mit den Soldaten, von denen einer nach dem anderen fiel.
Die Gewehre des Feindes dünnten die Reihen seiner Verbündeten nach und nach aus, bis Santino sich ungefähr auf der Hälfte des Weges flach auf dem Boden warf.
Die Einschläge der Kugeln kamen immer näher, seine Verzweiflung wuchs. Keine Deckung, keine Deckung, ging es immer wieder durch seine Gedanken.
Vor sich sah er einen gefallenen Soldaten liegen. Er robbte zu diesem, hob ihn ein wenig an und legte sich unter die Leiche.
Santino spürte die Einschläge der Kugeln in den Leichnam, der ihm nun als Deckung diente und hoffte einfach, dass keine Kugel ihn durchdringen würde.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde der Beschuss eingestellt, und Santino lugte unter seiner Deckung hervor. Noch fünfzig Meter, dann wäre ich da.
Um sich herum sah er die Leichen der Soldaten liegen. Wie erwartet hatte auch dieses Mal niemand den Weg zum anderen Graben geschafft. Sie werfen unsere Leben weg, dachte er verbittert.
Erneut versuchte er seinen zitternden Körper mit der Atemtechnik zu beruhigen. Zu seiner Linken sah er, dass nicht nur die Soldaten, die bei ihm gewesen waren, einen Vorstoß versuchten. Etwa zweihundert Meter entfernt versuchte ein weiterer Trupp sein Glück, und Santino sah, dass die feindlichen Gewehre auf diese Truppe gerichtet waren.
Einer plötzlichen Eingebung folgend warf er den durchsiebten Leichnam von sich, raffte sich auf und rannte, so schnell seine Beine ihn tragen konnten, über das Feld.
Einige feindliche Soldaten schienen ihn bemerkt zu haben. Noch während er über die Ebene hetzte, sah er aus dem Augenwinkel, wie einige auf ihn zeigten ihre Gewehre auf ihn richteten.
Schon schlugen die Kugeln rings um ihn herum ein und zischten knapp an ihm vorbei. Er hingegen schlug Haken beim Rennen und versuchte so gut es ging, kein allzu leichtes Ziel zu geben.
Er spürte ein plötzliches Brennen an seinem Arm. Eine Kugel musste ihn getroffen haben, doch davon ließ er sich nicht aufhalten. Er war ganz darauf fokussiert, es in den Graben schaffen, bevor die Maschinengewehre sich wieder auf seine Seite des Niemandslandes richten würden.
Ich schaffe das! Ich schaffe das!, stachelte er sich selbst an, während die Erde durch die Einschläge der Kugeln um ihn herum immer weiter aufgewühlt wurde.
Die letzten Meter überwand er mit einem weiten Sprung direkt in den Graben. Er landete hart, rollte über den Boden und prallte mit dem Rücken gegen eine der behelfsmäßig aufgebauten Barrikaden.
Keuchend rappelte er sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Erde und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Sein Blick füllte sich mit Entsetzen, als er ihn durch den Graben schweifen ließ. Überall lagen die Leichen der Soldaten, die bis zum letzten Moment versucht hatten, diese Stellung zu halten. Nur in einer Ecke saßen die verwundeten Soldaten, denen die Hoffnungslosigkeit in die Gesichter geschrieben stand. Aber er sah auch Überraschung in ihren Augen aufblitzen. Wahrscheinlich hatte niemand von ihnen noch damit gerechnet, dass jemand es zu ihnen schaffen würde.
Santino entfuhr ein verzweifeltes, beinahe hysterisches Lachen. Er wusste, dass er seinen Befehl ausgeführt hatte. Er war, wie durch ein Wunder, zum Graben mit den Verwundeten gelangt. Und er wusste, dass er hier sterben würde, zusammen mit den anderen Soldaten.