Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
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Mit weit aufgestellten Ohren, hoch erhobener Nase und rasch wedelndem Schwanz stand Jonathan neben Sebastian am Rand des kleinen Waldes, gerade so im Schatten der Bäume. Er konnte kaum stillstehen vor Aufregung, trat von einer Pfote auf die andere, schnüffelte immer wieder in die Luft und drehte die Ohren in die Richtung jedes noch so kleinen Geräuschs, das vom Berghang bis zu ihnen hinüberschallte.
Dort standen sie: ein Sprung Rehe. Sieben Tiere waren es, die im hellen Licht des Vollmonds am Hang ästen. Drei Ricken, ein Jährling, zwei Kitze und ein Bock. Der leichte Wind trug nicht nur die Ankündigung von Schnee, sondern auch den Duft der arglosen Tiere zu den Brüdern hinüber. Diese Rehe kannten keine Wölfe und rechneten daher auch nicht mit ihnen. Außer Jonathan und Sebastian gab es hier keine Prädatoren.
Zu gerne hätte Jonathan seinen großen Bruder mit einem Geräusch zum Agieren aufgefordert. Das lange Warten und Beobachten ließ ihn immer aufgeregter werden! Aber Sebastian hatte ihn in den letzten Tagen gründlich instruiert, so lange, bis ihre Mutter überzeugt war, dass Jonathan alles genau verstanden hatte und sich nicht unnötigen Gefahren aussetzen würde.
Ihr gefiel es gar nicht, dass Sebastian seinen kleinen Bruder das Jagen lehren wollte. Seit Monaten diskutierten die beiden darüber, immer dann, wenn sie glaubten, dass Jonathan sie nicht hören oder bemerken würde. Mit Erstaunen hatte der beobachtet, wie sein Bruder letztendlich die Oberhand gewann. Seit sein Wolf hervorgekommen war, entwickelte er immer deutlicher eine natürliche Autorität, der sich sogar ihre Mutter beugte. Und so hatte sie letztendlich nachgegeben, als Sebastian erklärt hatte, dass sein Bruder das Jagen so schnell wie möglich erlernen sollte. Er müsse so vieles lernen, solange er jemanden hatte, der es ihm beibringen konnte. Auch wenn er es, wie ihre Mutter stets wiederholte, ohnehin schon schwer genug hatte.
Jonathan wusste nicht, was genau sie damit meinte. Er wusste, dass Sebastian es schwer gehabt hatte. Er hatte sich alles selbst beibringen müssen: das Gestaltwandeln. Das Erspüren, wann er sich dem Ruf des Mondes nicht mehr widersetzen konnte. Das Balancehalten zwischen menschlichen Gedanken und wölfischen Instinkten. Das Jagen. Alles. Und er hatte Jonathan versprochen, ihm bei all dem zu helfen, bevor er zum Studieren fortzog.
Jonathan fürchtete sich vor den Vollmondphasen, während derer er allein sein würde. Natürlich war seine Mutter da. Er liebte sie, aber sie war kein Werwolf. Es war etwas anderes, wenn sie bei ihm war. Anders als sein großer Bruder.
Betrübt ließ er Schwanz und Kopf hängen und sah zu Sebastian hinüber. Der stand immer noch wie die Statue eines Rudelführers da, mit aufmerksamem Blick, angespanntem Körper, jederzeit bereit, loszustürmen, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Jonathan liebte seinen Bruder abgöttisch. Seinen Leitwolf. Was sollte er nur ohne ihn tun?
Dessen mahnender Blick rief ihn wieder zur Ordnung. Er musste jagen lernen! Er riss sich zusammen und imitierte den größeren Wolf neben sich.
Worauf sollte er achten? Sebastian hatte es ihm erklärt. Gegen den Wind anschleichen. Möglichst nah herankommen. Gut beobachten. Das gebrechlichste Tier identifizieren. Das von den anderen trennen. Es stellen. Es töten.
Es töten. Sein Verstand war sich noch nicht sicher, ob er das würde tun können, doch all seine Instinkte vibrierten bei dem Gedanken, wie seine Fänge sich in den Hals der Ricke bohren würden, sangen von der Jagdlust, dem Triumph, wenn die Beute ihm gehörte. Er würde seinen Instinkten vertrauen, dem Teil von ihm, der Wolf war, die Führung überlassen.
Ein leises Schnauben Sebastians lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihn. Sie tauschten nur einen kurzen Blick, glichen ab, dass sie dasselbe Tier ins Visier nehmen würden.
Dann war es soweit. Die Jagd begann!