Fortsetzung von "Lecker"
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Nicolas hatte sich bald verabschiedet und die beiden Forscherinnen mit dem Schädel alleingelassen, nachdem der offizielle Papierkram erledigt worden war. Das Museum musste die Verantwortung für das Fundstück übernehmen – eine Aufgabe, die glücklicherweise von der Direktion übernommen wurde. Jessica und Tanja konnten sich schon recht bald dem zuwenden, worauf sie seit Tagen hinfieberten: der Analyse.
Mit Mundschutz, Laborkitteln und Handschuhen schützten sie den Schädel vor ihren Körpern, insbesondere vor ihrem Schweiß und ihren eigenen DNA-Spuren. Es war zwar davon auszugehen, dass der Finder den Knochen längst angefasst und somit mit Unmengen seiner Erbsubstanz bedeckt hatte, doch nun galt es, jede weitere Verunreinigung zu vermeiden. Mit größtmöglicher Sorgfalt wurden Erd- und Schlammspuren entfernt, kleinste Knochenfragmente aus der Dreckkruste befreit und beiseitegelegt, fotografiert, dokumentiert, katalogisiert. Obwohl der Schädel fast völlig intakt wirkte, war es eine Puzzlearbeit, die höchste Konzentration erforderte. Über Stunden hinweg sprachen Tanja und Jessica kaum ein Wort miteinander, so vertieft waren sie in ihre Arbeit. Dennoch waren sie ein eingespieltes Team: Tanja übernahm die praktischen Arbeiten, Jessica fertigte die Zeichnungen an, die trotz der Fotodokumentation zusätzlich angefertigt wurde, um die Lage jeglicher Verletzung festzuhalten. Anhand diverser Kriterien war es möglich, festzustellen, welche Schäden vor bzw. während und welche nach dem Tod der Person eingetreten waren.
„Das ist interessant“, murmelte Jessica, während sie auf ihrer Skizze ein kleinfingerdickes Loch einzeichnete, das knapp über dem Nacken den Schädel durchbohrte. Irgendetwas daran zupfte leicht an einem Gedanken, der sich tief in ihrem Gehirn versteckte.
Tanja sah sich die erwähnte Stelle sofort genauer an. „Scheint eine Verletzung gewesen zu sein“, informierte sie nach kurzer Zeit. „Sieht der oben auf dem Schädel ziemlich ähnlich.“
Während Jessica noch dokumentierte, lehnte Tanja sich seufzend auf dem Stuhl zurück.
„Lass uns für heute Schluss machen, Jessy. Bringen wir das Ding in den Tresor und machen wir morgen weiter. Es ist schon dunkel draußen – wir werden nicht besser, nur, weil wir länger hierbleiben.“
Natürlich hatte Tanja Recht. Übermüdet würde ihre Arbeit keinesfalls besser werden. Mit einem schicksalsergebenen Nicken schloss Jessica ihr Laborbuch und brachte den Schädel gemeinsam mit ihrer Kollegin in den abschließbaren, temperierten Raum, den alle nur den „Safe“ nannten.
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Fortsetzung mit "verletzt"