Jessica beobachtete schmunzelnd, wie Tanja aufgeregt im Labor hin- und herwuselte, ohne wirklich irgendetwas Produktives zu tun. Hier arrangierte sie Bücher neu, dort überprüfte sie die Handschuhbox auf ihren Füllstatus, sah hier zum Fenster hinaus, dann dort auf die Uhr.
„Was ist denn los mit dir?“
Erst auf die Frage hin blieb Tanja abrupt stehen und fixierte sie mit leuchtenden Augen. „Er ist unterwegs, Jessy! Er müsste jeden Moment hier sein!“ Dann nahm sie ihre unruhige Wanderung wieder auf.
Für einen kurzen Augenblick war Jessica versucht, nachzufragen, was ihre Kollegin denn meinte, den Mann oder den Schädel, entschied sich aber dagegen, sie zu necken.
Seit Tagen sprachen sie und Tanja von nichts anderem mehr als den Knochen, die man irgendwo in einer Jessica unbekannten nordafrikanischen Stadt bei Bauarbeiten entdeckt hatte. Entgegen dem Willen der Bauherren wurde das Projekt vorläufig auf Eis gelegt und, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die menschlichen Überreste uralt waren, eine Gruppe von Archäologen mit der Analyse der Fundstelle beauftragt.
So weit war alles relativ langweilige Routine gewesen. Bis die ersten Charakterisierungen der Knochen bekannt wurden – seitdem schaute die Fachwelt mit angehaltenem Atem auf den Fundort.
Das in einer Grabanlage gefundene Skelett gehörte keiner bisher beschriebenen Hominidenart an.
Dr. Nicolas Hunter, ein für seine Expertise bei Feldarbeiten bekannter Anthropologe, hatte mit einem Team weiterer Wissenschaftler die Bergungsarbeiten überwacht und die menschlichen Überreste vor dem Verfall geschützt. Ihm war es auch zu verdanken, dass der Schädel und später auch die übrigen Knochen hierher gebracht wurden, ins Museum für Anthropologie. Als der lautstarke Streit begann, welche Fachmänner sich um die genaue Analyse des Schädels kümmern sollten, benannte er die beiden größten Experten auf dem Gebiet der Hominiden- sowie der Säugerforschung: Dr. Tanja Malzahn und Dr. Jessica Radajczak. Ihre wissenschaftliche Reputation hatte schnell dazu geführt, dass sie als Fach“männer“ anerkannt und mit der Untersuchung der Fundstücke beauftragt wurden.
Und nun war Nicolas zu ihnen unterwegs – mit dem Schädel im Gepäck.
Amüsiert beobachtete Jessica, wie Tanja mit jeder verstreichenden Minute nervöser wurde. Diese Untersuchung war für sie beide unglaublich wichtig. Nicht nur, dass sie einen Beitrag zur Erforschung der menschlichen Entwicklung würden leisten können, nein, auch würde eine solche Erstbeschreibung ihnen den Weg zu Professuren ebnen, auf die sie schon lange hofften.
Das Klingeln des Labortelefons störte die angespannte Stille. Tanja riss den Hörer ans Ohr. „Ja?“ – „Natürlich!“ – „Nein, ich hole ihn ab.“ Ohne Verabschiedung warf sie das Telefon auf den nächstbesten Tisch und eilte ins Treppenhaus.
Jessica schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Natürlich war auch sie aufgeregt, doch das äußerte sich bei ihr vollkommen anders als bei ihrer Kollegin. Die beiden Frauen waren in vielerlei Hinsicht grundverschieden – bei der gemeinsamen Arbeit war das jedoch von Vorteil.
Tanja brachte Projekte mit ihrer Begeisterungsfähigkeit, ihrer Unbeugsamkeit und ihrer zur Not auch recht lauten Art voran.
Jessica plante und überprüfte mehrfach, ließ sich von nichts aus der Ruhe bringen und dokumentierte jedes noch so kleine Detail ausgesprochen sorgfältig.
Auf dem Gang ertönten Schritte und Tanjas aufgeregte Worte, nur gelegentlich unterbrochen von Nicolas‘ sonorer Stimme.
Entschlossen straffte Jessica die Schultern und wandte sich zur Tür.
Jetzt ging es los.
~~~
Fortsetzung mit dem Prompt "schwindlig"