Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
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Besorgt sah Marion zwischen ihren Söhnen hin und her. Beide stocherten sie lustlos mit ihren Gabeln in ihrem Mittagessen herum. Schon wieder. Dabei hatte sie gehofft, sie mit ihrem aktuellen Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese, ein wenig aufmuntern zu können. Doch das war offensichtlich nicht gelungen.
Betont fröhlich fragte sie: „Also, ich bin satt, wie geht es euch?“
Unverbindliches Brummeln vom Teenager, ein „Mhm“ von dessen jüngerem Bruder. Das reichte. Marion hatte die Faxen dicke – sie würde jetzt herausfinden, was hier los war! Dass das Problem bei ihrem Älteren lag, war ihr klar – der Kleine machte ihm einfach alles nach, schon immer.
„Jonathan, Schatz, geh schon mal an die Schulaufgaben. Sebastian, bitte hilf mir in der Küche.“
Der Tonfall des letzten Satzes machte selbst dem pubertierenden Griesgram klar, dass Protest nichts nützen würde. Murrend, aber folgsam, sammelte er das benutzte Geschirr ein, während sie Spaghetti und Soßenreste zum Herd zurücktrug und ein feuchtes Tuch holte, um den Esstisch abzuwischen.
Nachdem sie das erledigt und sich versichert hatte, dass der Kleine nach oben gegangen war, betrat sie wieder die Küche, in der ihr Ältester gerade Wasser ins Spülbecken laufen ließ. Er sah alarmiert hoch, als sie die Tür hinter sich schloss.
„Sebastian.“ Er mochte es nicht mehr, wenn sie ihn mit Kosenamen bedachte. Sie gab sich wahrlich Mühe, auf seine Forderung, ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln, einzugehen, und hoffte, dass ein vernünftiges Gespräch ausnahmsweise zum Ziel führen würde. „Du bist seit vorgestern furchtbar schlecht gelaunt. Willst du mir nicht verraten, was los ist?“
Er drehte ihr den Rücken zu und gab wortlos Spülmittel ins warme Wasser.
Marion seufzte innerlich. Sie musste es wohl von einer anderen Seite angehen.
„Du musst mir nicht alles erzählen, das weißt du. Aber du kannst bestimmt verstehen, dass ich mir Sorgen um dich mache. Ich weiß nicht, was du auf dem Herzen hast und kann darum nicht richtig reagieren, weiß nicht, ob ich dir Hilfe anbieten oder dich besser in Ruhe lassen sollte. Jona geht es genauso, darum schleicht er so um dich herum. Sag mir bitte, was los ist, mein Schatz.“ Ah, Mist – da war ihr der Kosename doch wieder herausgerutscht.
Aber ihrem Sohn schien das gar nicht aufzufallen. Er stand am Spülbecken, die Hände auf dem Tresen geballt, den Kopf gesenkt. Seine Anspannung tat ihr in der Seele weh, doch sie wartete ab, überließ ihm die Entscheidung, ob er sich ihr anvertrauen wollte oder nicht. Im Stillen sandte sie ein Stoßgebet zur Jungfrau Maria – die hatte auch einen Sohn großgezogen, die verstand ihre Lage bestimmt!
„Die Klassenparty“, begann Sebastian zögernd zu sprechen. „Das Datum steht jetzt fest.“ Dann verstummte er wieder, seine Schultermuskeln verkrampften sich noch mehr.
„Und wann findet sie statt?“, fragte sie behutsam, um ihn zum Weiterreden zu animieren.
Sie hörte ihn schlucken, wusste, dass ihr Sohn mit den Tränen kämpfte. Sie wollte zu ihm gehen, ihn in die Arme schließen, ihn trösten wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Doch sie hielt sich tapfer zurück. Er mochte das nicht mehr.
Dann endlich erklang seine Stimme, frustriert und erstickt zugleich. „Am Freitag in drei Wochen.“
Jetzt verstand sie ihn. Vor Mitleid barst ihr fast das Herz. Mit zwei schnellen Schritten überbrückte sie die Distanz zwischen ihnen und legte ihm eine Hand auf die Schulter, drückte leicht, um ihm zu zeigen, dass sie da war. Wenigstens diese Berührung musste er ihr doch erlauben.
„Das tut mir so leid.“
Da sackten seine Schultern nach unten, Schluchzer schüttelten seinen Körper und mit einer einzigen Bewegung drehte er sich zu ihr um und warf sich in ihre Arme. Sie fühlte sich schlecht, weil sie sich freute, dass sie ihn trösten durfte, genoss es aber, ihr vor Kummer bebendes Kind festzuhalten, ganz sanft zu wiegen und ihm über den Rücken zu streicheln. Sie sagte nichts – es gab keine Worte, die ihn hätten trösten können.
Seit Wochen freute er sich auf dieses Fest. In der Schule war ein Tanzkurs angeboten worden, an dem alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe teilgenommen hatten, und Sebastian hatte es gewagt, seinen heimlichen Schwarm zu fragen, ob sie mit ihm auf der Abschlussparty tanzen würde. Natürlich hatte sie zugesagt – Marion war das von vorneherein klar gewesen. Ihr Sohn war ein bildhübscher Junge, selbstbewusst, groß, intelligent, schlank, charmant, athletisch und stark – ganz ein Abbild seines verstorbenen Vaters. Wer auch immer mit ihm auf der Tanzfläche stand, würde ein großartiges Bild abgeben.
Hätte ein großartiges Bild abgegeben. Sebastian würde nicht hingehen können, denn die Abschlussparty fand an einem Vollmond statt.
„Ich hasse mein Leben so sehr“, schluchzte er an der Schulter seiner Mutter. Die Unmöglichkeit, ihrem Kind, ihrem über alles geliebten Sohn, zu helfen, brach Marion das Herz. Schon wieder. Und wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie damals nicht Theodor geheiratet hätte.
Natürlich war diese Überlegung reiner Unsinn. Sie liebte ihre beiden Söhne über alles und hätte sie um nichts auf der Welt hergeben wollen. Genauso hatte sie Theodor geliebt. Aber sie hatte gewusst, dass er ein Werwolf war, und das machte sie mitschuldig am Schicksal ihres armen Kindes. Sie hatte es gewusst und sich dennoch dafür entschieden, zwei kleine Menschen zur Welt zu bringen, in deren Genen der Fluch lag.
Jeden Tag hatte sie gebetet, Gott in seiner Dreifaltigkeit, die Jungfrau Maria und alle Heiligen angerufen und gebeten, dass ihre Kinder verschont bleiben würden. Dass der Fluch ihre Söhne nicht zur Verwandlung zwingen würde.
Sie betete immer noch täglich dasselbe, doch inzwischen nur noch für ihren jüngeren Sohn. Für den Älteren erflehte sie nur noch Schutz, denn sie fürchtete, dass der Fluch ihn genauso töten würde wie seinen Vater.
Der hatte immer gesagt, sie dürfe es nicht so sehen. Es sei nichts Schlechtes an der Magie, die seinem Erbgut innewohne. Sie hatte ihm sogar geglaubt – bis der Fluch ihn umgebracht hatte.
Und nun ruinierte er das Leben ihres älteren Sohnes.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie erneut, als er sich aus ihren Armen befreite.
Er holte zitternd Atem, dann schenkte er ihr ein zaghaftes Lächeln. „Schon ok. Das ist eben der Preis, nicht wahr?“ Einen Moment zögerte er. „Das Ausheulen hat gut getan. Danke, Mama.“ Dann griff er nach dem Spülschwamm und nahm sich die drei Teller vor, als sei nichts gewesen.
Sie akzeptierte, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte. Wortlos trocknete sie das saubere Geschirr ab und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, als er sich ebenfalls für die Schulaufgaben zurückzog. Seine Worte jedoch hallten noch einige Zeit in ihrem Kopf nach. Einen Preis hatte er seinen Verzicht genannt – als ob er dadurch etwas Wertvolles erworben hätte.
Er war wirklich wie sein Vater.