Irgendetwas nagt in meinem Hinterkopf. Eine Freundin hatte gerade per WhatsApp beiläufig erwähnt, dass sie an ihrem Geburtstag ja frei hatte. Ich habe mich für sie gefreut, es aber darüber hinaus nicht kommentiert.
Sie auch nicht.
"Ist die Karte rechtzeitig angekommen?", frage ich also jetzt per Nachricht.
Die Geburtstagskarte müsste längst angekommen sein - es sieht meiner Freundin ausgesprochen unähnlich, dazu nichts zu sagen. Sie selbst sucht immer sehr schöne Karten aus, legt Wert darauf, dass sie auch zum Empfänger passt, und genauso viel Mühe habe ich mir mit ihrer gegeben.
Ich wollte dieses Jahr endlich mal nicht nachträglich, sondern rechtzeitig gratulieren! Darum zeigte mein Kalender auch schon eine Woche zuvor eine Erinnerung an - ich kenne mich, ich weiß, dass ich Zeit brauche, um eine schöne Karte auszuwählen.
Eigentlich wollte ich sie ja sogar selbst machen, aber ich kam nicht dazu. Also kaufte ich in einer Mittagspause eine hübsche, schrieb einen Text und legte sie in meinen Rucksack, damit mein Mann sie zuhause auch noch unterschreiben konnte.
Zuhause steckte ich die Karte und die Formulare, auf die die Gemeinde schon viel zu lange wartet, sowie die Einzugsermächtigung für die GEZ in meinen Rucksack, damit ich sie am Montag alle einwerfen konnte. Diese ganzen Sachen hatte ich viel zu lange vor mir hergeschoben, aber der Geburtstag war endlich ein Grund, der mich motivierte, zum Briefkasten zu gehen! Gleich in der Mittagspause!
Es war schon Abend, als ich zuhause realisierte, dass ich es in der Pause vergessen habe. Verdammt! Dabei sollte die Karte doch am nächsten Tag ankommen!
"Ich fahre nachher sowieso noch in die nächste Stadt, deine Schwester besuchen", sagte mein Vater. "Wenn du mir die Sachen gibst, werfe ich sie dort in den Briefkasten, der wird später geleert als unserer, dann ist deine Post morgen da!"
Erleichtert lächelte ich. "Danke!", sagte ich ihm und gingin meine Wohnung zurück.
Und jetzt plötzlich frage ich mich: habe ich ihm die Sachen dann überhaupt gegeben?
Beklemmung macht sich in meiner Magengegend breit. Ich kann mich nicht daran erinnern ...
Eilig lege ich meine Sachen beiseite und haste zum Parkplatz, hole meinen Rucksack aus dem Auto und durchwühle ihn, als ich meinen Schreibtisch wieder erreicht habe. Schon nach wenigen Sekunden habe ich die Umschläge in der Hand.
Scheiße!
Ich greife zum Smartphone und schreibe meiner Freundin. "Danke, dass du was gesagt hast! Ich habe es nie eingeworfen!", beichte ich ihr. Meine Finger zittern, nicht nur, weil es mir so leid tut, sondern auch, weil die Formulare für die Gemeinde wirklich wichtig sind. Außerdem liegt da noch ein Rezept, das ich dringend hätte verschicken sollen! Was ist nur los mit mir? Wie konnte ich all das vergessen, in den Briefkasten zu werfen? Ich trage es jetzt schon geschlagene fünf Tage mit mir herum!!!
"Lass gut sein. Du hast meinen Geburtstag vergessen", antwortet meine Freundin.
Dieser Satz treibt mir beinahe die Tränen in die Augen.
"Ich wünschte, es wäre so. Aber ich verstehe, dass du das glaubst - sieht ja auch sehr danach aus", schreibe ich zurück und lege das Telefon weg.
Ich wünschte wirklich, es wäre so. Da habe ich mir so viel Mühe gegeben, dieses Jahr pünktlich zu sein, und habe auf ganzer Linie versagt. Ja, ich hätte ihr am Geburtstag selbst noch eine Nachricht schicken können, aber das habe ich in der Tat vergessen. Vielleicht hatte ich diese Aufgabe geistig bereits abgehakt, da ich ja die Karte versendet zu haben glaubte?
Nun sitze ich da, aufgewühlt und den Tränen nahe - Tränen der Wut über mich selbst, Tränen der Scham, weil sie natürlich glauben muss, ich hätte sie vergessen.
Ich wünschte, ich hätte einfach so getan, als hätte ich ihren Geburtstag komplett vergessen. Ihr zu beichten, dass ich den Umschlag nicht eingeworfen habe, war völlig sinnlos - nun denkt sie, ich rede mich raus. Das schmerzt noch viel mehr.
Beichten erlöst eben doch nur in der Kirche von Sünden. Im wahren Leben sollte man Fehler manchmal vielleicht besser einfach verschweigen.