Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" (https://belletristica.com/de/books/16666-mondscheinserenade) zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
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Julius war sich nicht sicher, was er vom fröhlichen Zwitschern der Vögel und dem milden Frühlingswetter halten sollte. Einerseits kam es ihm so vor, als mache sich die Natur über seine Trauer lustig, täte alles, um den Teilnehmern an der Beerdigung unangemessene gute Laune zu bereiten. Andererseits war das vielleicht ein viel besserer Abschied von seiner Mutter als der kalte Nebel und die bedrückende Stille, die seinen Gefühlen eher entsprochen hätten.
Noch einmal sah er den Stamm der beeindruckenden Buche hinauf. Sie war stark und groß, majestätisch anzusehen und ragte mit scheinbarer Leichtigkeit ein wenig über alle anderen Bäume hinaus. Sie passte hervorragend zu seiner Mutter.
Nachdem er eine Blume in das kleine Loch geworfen hatte, in das die Urne hinabgelassen worden war, nahm er seiner Frau Kiara ihren Sohn ab, damit auch sie sich verabschieden konnte, und ging mit ihm einige Meter zur Seite.
Unwillkürlich lächelte er, als Timo sich zappelnd aus seinem Arm zu befreien versuchte. Der Junge liebte den Wald. Es würde keine zehn Minuten dauern, bis er seine kleine schwarze Hose und den ebenso dunklen Pullover über und über mit Blättern, Tannennadeln und Dreck verziert hätte, wenn Julius ihn nun absetzte. Aber wäre das wirklich so schlimm? Sie hatten Ersatzkleidung eingepackt ...
Er gab seinem Sohn einen liebevollen Kuss, ging in die Hocke und entließ den Kleinen aus seinem Griff. Sofort tapste der los, erforschte die Gegend, brachte ihm Fundstück um Fundstück, alles Dinge, die ihn staunen ließen: Blätter, Tannenzapfen, Eicheln, undefinierbare Erdklumpen ...
Julius bedankte sich jedes Mal höflich bei Timo und freute sich kurz mit ihm, bevor der sich wieder auf die Jagd nach neuen Wundern machte. Er selbst hingegen behielt die Gegend und seinen Sohn sorgsam im Blick. Der Friedwald lag zwar in ihrem Territorium, aber man wusste ja nie ...
Seufzend fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Er war schon immer wachsam gewesen, hatte schon immer auf sich, seine Frau, seine Familie und sein Rudel aufgepasst, aber seit Timo Teil seines Lebens war, hatte er permanent Angst, ihm könnte etwas zustoßen. War er paranoid? Oder war das ganz normal?
Als das Loch am Fuß der Buche zugeschüttet wurde, war es Zeit, aufzubrechen. Kiara übernahm die Aufgabe, Timo einzufangen, sodass Julius sich an die anwesenden Trauergäste richten konnte.
„Abmarsch – Gasthaus Hirsch, wisst ihr ja“, verkündete er mit lauter Stimme.
Wer ihn kannte, wunderte sich nicht über seine ruppige Art, alle anderen schoben sie vermutlich auf seine momentane Gemütslage. Nur Kassandra, seine Schwester, warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Er wusste, warum.
Auf dem Weg zum Parkplatz passierten alle die Geschwister, drückten ihr Beileid aus. Die Menschen gaben ihnen die Hand, Kinfolk umarmte sie, und die Werwölfe unter ihnen zeigten zusätzlich durch kleine, unauffällige Gesten, wie sehr sie der Verlust ihrer Leitwölfin schmerzte.
Auch Kiara und Timo gingen zu den Autos. Damit waren er und Kassandra allein.
„Das Rudel hat dich nicht zum neuen Leitwolf gemacht“, machte Kassandra ihrem Ärger darüber Luft, dass er gerade das Kommando übernommen hatte.
Doch Julius war dieser Diskussionen müde. Ja, er wollte schon immer das Rudel anführen. Ja, er brachte viele Eigenschaften mit, die einen guten Leitwolf ausmachten. Und ja, er hatte exzellente Chancen. Aber all das traf auch auf Kassandra zu.
Er hatte in den letzten Tagen sehr viel nachgedacht. Mit Kiara gesprochen. Und sein Entschluss stand fest.
„Ich gehe, Kassandra.“
Damit überrumpelte er sie. Sie starrte ihn verständnislos an.
„Ich ziehe weg. Wir ziehen weg. Du wirst die neue Leitwölfin.“
Langsam schüttelte sie den Kopf, als könne sie nicht fassen, was ihr Bruder da sagte. „Warum? Hast du Angst, dir könnte dasselbe passieren wie Mama?“ Neben dem Spott und der Herausforderung, mit denen sie einander üblicherweise bedachten, glaubte er, auch ein wenig Verständnis in ihrer Stimme zu hören.
„Mir nicht. Timo.“
Kaum hatte er das gesagt, veränderte sich die Haltung seiner Schwester. Sie liebte ihren Neffen. Wenn er das tun wollte, um ihn zu schützen, würde sie seine Entscheidung akzeptieren und unterstützen.
Einen Augenblick schwiegen sie, sahen zu der mächtigen Buche hinüber, unter der gerade die letzten Arbeiten verrichtet wurden, um das Begräbnis abzuschließen.
„Wohin willst du gehen?“
Er lächelte kurz. Immer machte sie sich Gedanken. Ganz die große Schwester. „Ich weiß es noch nicht genau. Nach Süden. Ich habe ein paar Jobangebote gefunden, in Gegenden, in denen es auch Rudel gibt. Weniger aggressive als die, die hier um unser Territorium herum leben. Hier wird es ganz schön gefährlich werden.“
Sie nickte, Stolz blitzte in ihren Augen auf. „Das schreckt mich nicht ab.“
„Ich weiß. Du wirst eine gute Leitwölfin sein. Und wer weiß – vielleicht führe ich ja dann irgendwann ein anderes Rudel an.“
Sie grinste. „Das wäre großartig – zwei Wernecke-Leitwölfe!“ Sie zog ihn an der Schulter ein Stück näher, legte ihre Stirn an seine und rieb ihre Nase kurz an seiner. „Pass auf dich auf, Brüderchen. Ich wünsche dir Glück und Erfolg. Ein Rudelwechsel ist nicht leicht, könnte aber eine großartige neue Chance sein. Du weißt, dass du hier jederzeit wieder willkommen bist, nicht wahr?“
Jetzt lachte er leise. „Brüderchen? Ich bin größer als du!“ Dann wurde er ernster, lächelte aber immer noch. „Danke. Und jetzt komm – wir sollten die anderen nicht länger warten lassen.“