Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
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Neugierig sah sie zwischen den Zweigen der Büsche hindurch zu dem rollenden Ding. Dort kamen die bunten Menschen heraus. Sie hatte sie schon häufig beobachtet. Immer hatten sie andere Farben gehabt. Nur anhand ihres Geruchs hatte sie sie wiedererkannt.
Sie lauschte aufmerksam. Sie unterhielten sich. Vieles verstand sie. Einige der bunten Menschen wollten warten. Und Futter vorbereiten. Einige wollten fortgehen und wiederkommen.
Ein paar holten Gefäße aus dem rollenden Ding, in denen Futter aufbewahrt wurde. Eine junge Frau stand ein wenig abseits und redete lachend mit sich selbst. Dabei hielt sie die ganze Zeit eine Hand ans Ohr.
Sie betrachtete die junge Frau. So könnte sie auch sein. Das wusste sie noch nicht lange. Sollte sie es versuchen? Die Leute kennenlernen?
Jemand öffnete eine Klappe hinten an dem rollenden Ding. Dann wechselten einige der Menschen das Fell. Sie legten das bunte Fell Stück für Stück ab, bis sie nackt beieinanderstanden. Und dann kam der Teil, der sie immer so sehr faszinierte.
Sie wurden Wolf.
***
Sie hatte sie kennengelernt in der vergangenen Nacht. Die Menschen, die Wolf werden konnten. Sie hatte sich gezeigt. Fern ab von ihrem Rudel, dessen Geruch mit Dreck überdeckt war. Hatte die Fremden beschnüffelt. Sich beschnüffeln lassen. Hatte der Leitwölfin ihren Respekt bezeugt. War eine Nacht mit ihnen gelaufen.
Es war schön gewesen, und doch manchmal seltsam. Die Menschwölfe schnüffelten ganz aufgeregt an einigen alltäglichen Spuren. Sie folgten Fährten, obwohl sie nicht hungrig waren. Sie gingen ein Stück abseits, wenn sie das Bein heben mussten. Sie versteckten sich, wenn im Wald ein Ast brach. Sie tranken nicht aus den herrlich abgestandenen Pfützen.
Nun gingen sie zurück zu den anderen Menschen. Verabschiedeten sich von ihr.
Sollte sie ihnen folgen?
Sie zögerte.
Dann lief sie ihnen nach.
„Sieh nur, sie sind zurück!“ Ein Mensch rief, die anderen scharten sich aufgeregt um sie.
Ein Mann ging auf ein Knie und breitete die Arme aus. Die Leitwölfin lief nervös hin und her. Der Mann stutzte. „Das ist ein Wolf zu viel!“
Sie konnte die Nervosität der Menschen riechen. Alle sahen sie an.
Sie gehörte nicht zu diesem Rudel.
Man fürchtete, sie könne den Menschen etwas antun.
Sie musste es jetzt tun.
Ein kollektives Raunen ging durch die Menschen, als sie Mensch wurde. Die Wandlung kostete sie Mühe. Die Leitwölfin war viel schneller.
„Wer bist du?“, fragte sie. Ihre Augen waren groß.
„Ich.“ Ihre Stimme klang seltsam. Sie benutzte sie nicht oft.
Die Leitwölfin wollte ihr auf die Beine helfen. Sie hatte es noch nie geschafft, das Gleichgewicht auf nur zwei Beinen lange zu halten. Sie fiel wieder hin.
***
Ohne Fell war es kalt. Man hatte ihr eine Decke gegeben und sie um sie geschlungen. Die Leitwölfin saß ihr in buntem Fell gegenüber.
Man war erstaunt. Über sie. Glaubte sie jedenfalls. Sie konnte nicht riechen in dieser Gestalt.
„Wie könnte sie hierher gekommen sein?“ Die junge Frau sah mit großen Augen zur Leitwölfin. Diesmal hielt sie zum Sprechen nicht die Hand ans Ohr.
„Wir können ihr nicht trauen.“ Ein Mann. Seine Augen waren Schlitze, wenn er sie ansah.
„Gibt es hier andere Wölfe?“ Die Leitwölfin sah sie wieder an.
Sie sagte nichts. Wollte die anderen nicht verraten.
„Bist du allein oder hast du ein Rudel?“
Allein? Der Gedanke ließ sie schaudern. „Rudel“, antwortete sie. Allein wäre schrecklich.
„Gut.“ Die Leitwölfin nickte mit dem Kopf. Sie wollte nicht, dass sie allein war. Sie war eine gute Leitwölfin.
„Es muss hier ein Kinfolk-Rudel geben.“ Die Leitwölfin sah die anderen an.
Einer machte ein bellendes Geräusch. „Das kann nicht sein! Das ist unglaublich selten!“
Die Leitwölfin sah sie wieder an. „Möchtest du mitkommen? Zu uns? Lernen, Mensch zu sein?“
„Nein. Ich bin Wolf.“
Die Leitwölfin nickte wieder mit dem Kopf. „Du bist ein Werwolf. Du kannst auch Mensch sein.“
„Ich will Wolf sein.“
Die Leitwölfin zeigte ihr die Zähne. Doch es sah nicht sehr bedrohlich aus.
„Wenn du willst, zeigen wir dir, wie man auch Mensch ist. Es hilft, die Wölfe zu beschützen.“
Das ließ sie aufhorchen. Sie wollte die Ohren aufstellen, aber das ging nicht.
„Wölfe beschützen?“
Die Leitwölfin nickte. „Aber dafür musst du wissen, wie man auch Mensch ist.“
„Nicht immer?“
Die Leitwölfin schüttelte den Kopf zu den Seiten. „Nur manchmal.“
Sie zögerte. Dann: „Ja. Manchmal Mensch ist gut. Das Rudel beschützen.“
Die Leitwölfin stand auf. „Rudel! Heißt unseren Neuzugang willkommen. Wir werden sie lehren, Mensch zu sein. Von nun an sind wir eins der wenigen Rudel, die einen Wolfsgeborenen in ihren Reihen haben!“
Die Menschen machten Lärm. Sie erschrak.
„Ruhe!“ Die Leitwölfin hob die Arme. „Sie kennt unsere Welt nicht. Nicht nur sie, auch wir müssen einen Neuanfang machen, in allem Rücksicht auf sie nehmen. Dazu gehört auch, nicht zu klatschen, bis sie es kennt!“
Neuanfang. Sie kannte das Wort nicht. Genau wie Rücksicht. Und Klatschen. Was bot die Welt der Menschen wohl sonst noch Neues?