Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
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Schnee! Flocken! Schneeflocken! So viele! Ich fange sie!
Begeistert sprang Jonathan durch den Garten, quietschte ab und zu vor Vergnügen, was ihm einen tadelnden Blick seiner Mutter einbrachte, den er aber rasch wieder vergaß, wenn er zum nächsten Sprung ansetzte.
Sebastian beobachtete sein Spiel lächelnd. Die Flocken tanzten fröhlich um seinen jüngeren Bruder herum, und er jagte ihnen mit einem Enthusiasmus hinterher, die nur junge Wölfe an den Tag legten.
Noch fiel es ihm schwer, seine Gestalt zu wandeln, und Sebastian musste ihn immer wieder trösten, wenn er es unter Schmerzen endlich geschafft hatte. Aber er wurde von Mal zu Mal besser darin, und der Winter hier in den Bergen eignete sich hervorragend zum Üben. Der Schnee kühlte die gedehnte Haut, die veränderten Knochen und linderte das Leid, das die Verwandlung mit sich brachte.
Es hatte viel Überredungskunst bedurft, um ihre Mutter zu überzeugen, dass Sebastian im Garten hinter den blickdichten Hecken mit Jonathan gestaltwandeln durfte. Er musste ihr versprechen, gut auf seinen kleinen Bruder aufzupassen, damit die Nachbarn nichts von dem Fluch, wie sie es nannte, mitbekamen. Dabei empfand er selbst es gar nicht als Fluch. Sie waren einfach, was sie waren. Wie ihr Vater es gewesen war, bevor er von Werwolfjägern getötet wurde.
Die Erinnerung machte Sebastian traurig. Er vermisste seinen Vater und dessen Lehrstunden über die Werwolfgesellschaft, das Wolfsein und das Wandeln an sich. Er hatte immer gehofft, dass zumindest einer seiner Söhne seine Fähigkeit zum Gestaltwandeln geerbt hatte – dass sie es beide konnten, hatte er zu Lebzeiten nicht mehr erfahren.
Rasch beobachtete er wieder seinen Bruder, der sich ausgelassen dem Spiel mit dem Schnee hingab. Der Anblick hellte seine Stimmung sofort auf.
Was stand er hier eigentlich so langweilig herum? Kurzerhand zog er seine warme Kleidung aus, warf sie bibbernd durch die Terrassentür in die Küche und wurde ebenfalls Wolf. Gemeinsam mit seinem Bruder tollte er eine ganze Weile durch den Schnee, der Menschen inzwischen bis zu den Knöcheln reichte. Es war herrlich, sich in Wolfsgestalt austoben zu können, mit Jonathan herumzualbern, zu spielen und zu balgen, bis sie beide hechelnd im Schnee zu liegen kamen.
Liebevoll leckte er seinem Bruder über die Schnauze, was den sofort zu einer weiteren Runde Toben animierte. Erst die Stimme ihrer Mutter unterbrach sie.
„Hey ihr beiden – das Mittagessen ist gleich fertig! Kommt wieder rein!“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht bewies, dass selbst sie, die kein Wolf werden konnte, die Freude und Ausgelassenheit ihres Spiels genoss.
Sebastian wusste, dass sie es nicht böse meinte. Sie sorgte sich um ihre Kinder, die nicht das Schicksal ihres Vaters erleiden sollten. Aber sie wusste nicht, was sie ihnen nahm, wenn sie das Wandeln verbot. Die Freiheit, die die Wolfsgestalt ermöglichte. Die scharfen Sinne. Das völlig andere Lebensgefühl. Die Intensität der Emotionen, die das Denken deutlich überlagerten.
Auffordernd stupste er seinen Bruder mit der Schnauze an. Es war Zeit, Mensch zu werden.
Jonathan winselte und legte sich flach in den Schnee. Er fürchtete sich, das wusste Sebastian. Und er verstand es. Es tat am Anfang so unglaublich weh ... selbst er konnte es noch nicht ohne Überwindung.
Er schmiegte sich eng an seinen Bruder, leckte ihm zärtlich über den Kopf.
Ich bin da. Du bist nicht alleine.
Er war froh, dass er für Jona da sein konnte. Auf keinen Fall sollte sein kleiner Bruder so leiden wie er, der völlig auf sich allein gestellt gewesen war, als der Mond ihn zu seinen ersten Verwandlungen zwang. Er würde mit ihm üben, wieder und wieder, damit er beim nächsten Vollmond vorbereitet war. Und der Schnee half, dass es nicht so weh tat.
Zusammen würden sie das schon schaffen. Sie waren Brüder, immer füreinander da. Nichts würde sie je trennen. Das schwor Sebastian sich, während Jonathan winselnd im Schnee wieder menschlich wurde.