Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
~~~
Verärgert legte Ralf das Telefon weg. Die aktuellen Lieferengpässe bei bestimmten Arzneimitteln waren wirklich unfassbar! Seit über einer halben Stunde telefonierte er nun durch die Gegend, und das alles, um einem einzigen seiner Kunden das Medikament zu besorgen, das der dringend brauchte. So sollte das nicht laufen! Es blieben noch die Apotheken in zwei großen Nachbarstädten, die er durchtelefonieren musste, immer in der Hoffnung, dass jemand auf Lager hatte, was der Patient, der mit dem Rezept zu ihm gekommen war, benötigte. Oder gab es sonst noch jemanden, den er anrufen könnte ...?
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ ihn aufsehen. In der offenen Tür zum Büro stand eine seiner Assistentinnen, eine junge, hübsche Brünette. Sie starrte zu ihm hinüber, sah ihn jedoch nicht an. Sie starrte auf seinen Schritt. Was sollte das denn nun bedeuten?
„Was ist los, Frau Hechler?“, fragte er freundlich.
Sie errötete und sah ihm in die Augen. „Äh ... ich ... entschuldigen Sie bitte“, murmelte sie verlegen. „Das war nicht, wonach es aussah, ich meine, ich habe auf Ihre Hand geschaut. Sie machen das immer, wenn Sie sich konzentrieren, und ich wollte nur sehen, ob ich sie störe und ... na ja ...“ Ihre Worte verloren sich in verlegenem Schweigen.
Verwirrt runzelte er die Stirn, bis ihm dämmerte, wovon sie sprach. Die Narbe. Er lächelte sie an, nahm beiläufig die Hand aus dem Schoß. „Eine blöde Angewohnheit, ich weiß. Ich bitte um Entschuldigung, wenn Sie das irritiert. Ich habe da eine Narbe, an der ich immer herumkratze, wenn ich nachdenke.“
Er sah ihr die Erleichterung deutlich an, als er das Thema so locker abtat. „Echt? Woher denn? Wurden Sie operiert?“
Für einen Moment erstand der Moment wieder vor seinem inneren Auge auf. Er und Margot, Auge in Auge, die Lefzen knurrend zurückgezogen, das Nackenfell gesträubt. Es war ein Kampf um die Rangfolge im Rudel gewesen, und deutlich wurde, dass er klar der Schwächere von ihnen beiden war, wurde er so wütend, dass er sich nicht unterwarf. Er hatte sie angegriffen, voll Wut, und sie hatte ihn an der Kehle gepackt, ihre Fänge nur ein klein wenig in seine Kehle gesenkt, eine eindeutige Warnung, dass er es gut sein lassen musste. Was er tat. Aber mit ihrem Hinterlauf hatte sie ihn so übel gekratzt, dass die Narbe bis heute deutlich zu sehen war.
„Nein, ein kleiner Unfall“, antwortete er seiner Assistentin. Seinen Ärger darüber, dass er selbst Margot nicht besiegt hatte, dass er der rangniedrigste Wolf im Rudel war, verbarg er hinter einem professionellen Lächeln. „Was gibt es denn nun?“
„Da ist ein Herr vorne, der mit Ihnen sprechen möchte. Nur mit Ihnen. Er sagt, ein Herr Ganzinger schickt ihn.“
Das erklärte für Ralf alles. „Bitte führen Sie ihn in den Beratungsraum“, wies er seine Assistentin an und sperrte seinen Computerbildschirm.
Er war sehr gespannt auf den neuen Werwolf im Rudel.
Der Neue stand freundlich lächelnd auf, als Ralf das Zimmer betrat, und streckte ihm die Hand entgegen. „Herr Kohler, nehme ich an?“
Ralf ergriff die dargebotene Rechte und schüttelte sie. Fester Griff. Selbstbewusster Kerl. Wie war wohl sein Wolf? Größer und stärker als sein eigener oder hatte er hier endlich eine Chance, in der Hierarchie aufzusteigen?
„Ralf. Wir duzen uns alle. Wie schön, dich kennenzulernen, Julius – Sebastian hat mir schon von dir erzählt. Was kann ich für dich tun?
Sie setzten sich, und Julius seufzte. „Na ja, es geht eigentlich gar nicht um mich. Mein Sohn hat einen wirklich komischen Ausschlag –“
„Werwolf? Kinfolk? Alter?“, unterbrach Ralf ihn, und Julius lächelte verlegen.
„Entschuldige, du kennst ihn ja gar nicht. Er ist erst zwei, wir wissen also nicht, ob er ein Werwolf oder Kinfolk ist.“
Ralf nickte. Vor der Pubertät, dem ersten Mal, wenn der Mond die Verwandlung erzwang, wusste man das nie. Hoffentlich war der Kleine ein Werwolf. Es gab immer weniger von ihrer Art.
„Jedenfalls hat er Ausschlag“, fuhr Julius fort. „Vorgestern hatte er noch Fieber, der Arme, und hat fast den ganzen Tag geschlafen. Jetzt scheint er wieder fit, aber er hat Flecken an den Händen und Füßen, die zum Teil zu Bläschen oder so werden – fast, als hätte er Windpocken, aber nur an einigen Stellen. Am Hintern auch. Wir waren bei einem Kinderarzt, und der meinte, es könnte auch eine allergische Reaktion sein auf –“
„Quatsch“, unterbrach Ralf ihn wieder. „Kein Kinfolk-Kinderarzt, oder? Nur ein Mensch?“
Julius nickte aufgeregt. „Wir sind hier ja neu und kannten noch keinen anderen, und da –“
„Zukünftig geht ihr zu Dr. Ritz – menschliche Ärzte sind doch alles Kurpfuscher und Scharlatane! Ich schreibe dir die Adresse auf. Die ist nicht nur Kinfolk, die ist ein Werwolf, und eine sehr gute Kinderärztin. Aber dafür musst du eigentlich nicht hin. Das ist Maul- und Klauenseuche. Eine Viruserkrankung. Ich verkaufe dir gern ein Schmerzmittel, das auch bei Kinfolk und Werwölfen wirkt, damit der Kleine isst und trinkt, denn die Bläschen sind meist auch im Mund. Wenn es aber in ein paar Tagen nicht besser wird oder irgendwas plötzlich anders ist als jetzt, ruf Dr. Ritz an. Sie wird euch helfen.“ Er notierte die Adresse der Ärztin auf einem Stück Papier.
Als er aufsah, Julius den Zettel übergab und dessen Blick begegnete, sah er Unsicherheit in den Zügen des anderen. „Was ist?“
Julius zögerte kurz. „Wenn mein Sohn Maul- und Klauenseuche hat – heißt das, er ist ein Werwolf?“
Ralf schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Es kann genauso die Hand-Fuß-Mund-Krankheit sein. Das ist auch kein Weg, vor der Pubertät zu wissen, was er ist.“
Julius nickte, stand auf und sah ein wenig betreten drein. „Weißt du, nicht, dass es wichtig wäre. Hauptsache, er ist gesund, nicht wahr? Es ist nur so unglaublich ... spannend!“
Mit ein paar freundlichen Worten brachte Ralf den anderen nach draußen, verkaufte ihm das spezielle Schmerzmittel und sah ihm nach, als er die Apotheke verließ.
Eigentlich ein ganz netter Kerl. Aber bis zum nächsten Vollmond war er vorsichtig mit seinem Urteil. Er durfte sich bei den Rangfolgekämpfen nicht von Sympathien ablenken lassen.