Hinweis: Dieses Kapitel dient mir dazu, die Charaktere für mein Hauptwerk "Mondscheinserenade" (https://belletristica.com/de/books/16666-mondscheinserenade) zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Falls ihr die hier vorgestellten Personen mögt, schaut doch mal rein!
~~~
„Marie bitte.“
Geistesabwesend blickte sie aus dem Fenster. Die Bäume wurden von einer heftigen Windböe geschüttelt und bogen sich weit. Sie konnte es von hier nicht sehen, aber sicher fielen Äste herab.
„Marie?“
War der Wind zuhause auch so stark? Es war weit bis zuhause. Bestimmt vier Stunden in vollem Lauf. Hoffentlich passten die anderen gut auf ihre Kinder auf. Ihre Schwester würde es bestimmt tun. Sie war klug. Und sie mochte Welpen.
„Marie!“
Sie schreckte zusammen, als die Stimme laut wurde, und starrte verwirrt nach vorne. Der Mann, der an der Tafel stand, sah sie streng an.
„Marie – nicht träumen, aufpassen! Ich habe dich dreimal aufrufen müssen! Bitte komm nach vorne und rechne vor.“
Ein seltsames Gefühl drückte ihren Hals zu. Sie schluckte, um es loszuwerden. Aber Barbara hatte gesagt, sie musste auf die Lehrer hören. Barbara hatte auch gesagt, dass es wichtig war, dass sie lernte. Dass sie viel und schnell lernte.
Auf dem Weg zur Tafel sah sie sich an, was dort stand. Lesen hatte sie gelernt. Schreiben auch. Dieses Problem war also erledigt. Gleichungen mit zwei Variablen lernte sie jetzt.
Sie griff nach der Kreide und starrte die Formel angestrengt an. Irgendwie musste man herausfinden, was x war. Und y.
„Hast du dich wieder zu Tagträumereien verleiten lassen, Marie?“
Verwirrt drehte sie sich zum Lehrer um. „Wie bitte?“ Man sollte höflich sein, hatte Barbara gesagt.
„Ich habe gefragt, ob du dich wieder zu Tagträumereien hast verleiten lassen“, wiederholte er.
„Tagträumereier?“, versuchte sie, das erste neue Wort zu wiederholen. „Und was ist ‚verleiten‘?“
Der Lehrer seufzte. „Tagträumereien. Träumen, obwohl man nicht schläft, am Tag. Und verleiten ist dasselbe wie verführen.“
Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach. Nein, das Wort kannte sie auch nicht. „Verführen?“, fragte sie zögerlich, da sie glaubte, Ungeduld im Verhalten des Lehrers zu erkennen. Er seufzte. Und er verzog das Gesicht. Das waren Anzeichen von Ungeduld.
„Nicht so wichtig“, wiegelte der Lehrer ab. „Kannst du die Gleichung jetzt lösen oder nicht?“
Marie konnte. Sie hatte nur ein wenig länger darüber nachdenken müssen. Mathematik übte sie zweimal in der Woche mit Jonathan. Er hatte ihr auch erklärt, warum sie das lernen musste – für eine Prüfung, die man Abitur nannte.
Vieles von dem, was sie mit den anderen Rudelmitgliedern lernte, brauchte sie für diese Prüfung. Sie musste fremde Sprachen lernen. Sie war überrascht gewesen, dass die Menschen nicht alle dieselbe Sprache verwendeten. Sie hatte sich nie zuvor darüber Gedanken gemacht – würde sie sich wohl mit einem Wolfsrudel aus fernen Ländern verständigen können? Sprach auch ihr Volk in verschiedenen Sprachen?
Die Sprache, die sie inzwischen recht gut beherrschte, nannte man Deutsch. Aber sie musste für die Prüfung auch eine Sprache namens Englisch können, die man angeblich überall auf der Welt lernte. Sebastian konnte sie gut. Er übte auch einmal in der Woche mit ihr. Und Adrian sprach Italienisch. Das war nicht ganz so wie das Latein, das sie hier in der Schule lernte, aber wohl ähnlich. Er verstand es gut und behauptete, Latein wäre so etwas wie die Eltern von Italienisch. Das hatte sie noch nicht wirklich verstanden. Aber sie lernte es auswendig, so, wie sie auch viele andere Dinge hier in der Schule auswendig lernte. Namen, Zahlen, Geschichten von alten Männern, die sich mit anderen gestritten hatten und ihre ganzen Rudel in einen Kampf geführt hatten, den nur wenige überlebten.
Sie war schockiert gewesen, als Barbara sagte, dass es Geschichten über Ereignisse seien, die so stattgefunden hatten. Sie würde ihr Rudel niemals in einen sinnlosen Kampf führen. Wie hatten diese alten Männer es nur tun können? War man damals noch nicht so klug gewesen? War es, weil sie ein Weibchen war? War es, weil sie selbst Welpen hatte, die in einem Kampf nicht sterben sollten? Oder war es einfach, dass sie jünger war und deshalb schneller denken konnte? Sie war eine sehr junge Leitwölfin, das hatte sie gelernt.
Als sie das Klassenzimmer verlassen wollte, hielt der Lehrer sie zurück.
„Marie – du musst dringend an deinen Sprachproblemen arbeiten.“ Seine Stimme klang nicht unfreundlich. Vermutlich wollte er ihr helfen.
„Sprachprobleme?“, wiederholte sie verwirrt.
Er seufzte. „Kennst du das Wort nicht oder weißt du nicht, was ich meine?“
„Was Sie meinen“, antwortete sie. „Ich spreche doch. Ich kann sagen, was ich denke.“
„Dein Wortschatz ist aber recht beschränkt. Klein. Du kennst wenige Wörter.“ Er versuchte, sich so auszudrücken, dass sie ihn verstand. Das war nett. „Dabei bist du schon sechzehn. Wie lange bist du schon in Deutschland?“
Sie war sich nicht sicher, was diese Frage mit den Wörtern zu tun hatte. Aber sie antwortete wahrheitsgemäß. „Schon immer.“
Diese Antwort schien den Lehrer zu verwirren. „Aber ... du hast einen sehr seltsamen Akzent für eine Muttersprachlerin. Hast du ... also ... eine ... Krankheit oder so etwas?“
Jetzt musste sie aufpassen. Das war einer der Momente, in denen sie sich nicht verraten durfte. Barbara hatte sie gut darauf vorbereitet.
„Ich hatte einen Unfall.“ Das stimmte sogar, sie war als junge Wölfin einmal einen Felshang hinabgestürzt. Aber die Knochen waren alle wieder geheilt. Heute wusste sie, dass Werwölfe schnell heilten.
„Ich kann nicht gut sprechen.“ Das empfand sie immer noch als Lüge, doch Barbara hatte ihr eingeschärft, dass sie das sagen sollte. Sie würde ihren Anweisungen folgen. Zuhause war sie die Leitwölfin, doch bei den Werwölfen nicht. Dennoch fand sie, dass sie im letzten Jahr exzellent sprechen gelernt hatte.
„Aber sonst ist alles normal.“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht war ein unterdrücktes Lachen – der Lehrer war ein Mensch. Für ihn war sie eigentlich nicht normal. Sogar für die Werwölfe war sie nicht normal. Man hatte ihr erklärt, dass die meisten Werwölfe die Kinder von Menschen waren, nicht von Wölfen.
„Ach so ...“ Der Lehrer sah sie mit großen Augen an. „Das wusste ich nicht. Tut mir leid, das hat mir niemand gesagt ... also ... Tut mir leid, dass ich dich vor der Klasse ... es kommt nicht wieder vor. Jetzt weiß ich ja Bescheid.“
Sie lächelte, weil sie ihm nicht böse war.
„Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“
Soweit sie wusste, durften Lehrer alle möglichen Fragen stellen. Also wartete sie ab.
„Was möchtest du später beruflich machen?“
„Beruflich?“ Sie legte den Kopf schief und dachte über das Wort nach. „Als Job?“
Er nickte.
„Försterin!“, antwortete sie begeistert. „Ich werde mich um den Wald kümmern. Um die Pflanzen und Tiere. Dafür muss ich das an der Uni lernen.“ Dann verflog ihre Begeisterung so schnell, wie sie gekommen war. „Aber damit ich das darf, brauche ich Abitur. Dafür muss ich viele Dinge lernen, die unwichtig sind. Musik. Kunst. Religion. Geschichten.“
Der Lehrer sah sie ernst an. „Du bist eine gute Schülerin. Du wirst das schaffen, wenn das dein Traum ist, davon bin ich überzeugt. Erzähl den Leuten, dass du Sprachschwierigkeiten hast – ich werde die Aufgaben in der nächsten Klassenarbeit einfacher formulieren. Vielleicht fallen sie dir dann leichter.“
Sie strahlte ihn an. „Danke!“ Das würde ihr so vieles leichter machen!
Beschwingt ging sie auf den Schulhof, setzte sich unter ihren Lieblingsbaum und zum Gebäude hinüber, wo die Menschen sich lieber aufhielten. Sie mochten den Wind nicht. Dabei brachte der immer frische Luft.
Sie fühlte sich hier so fehl am Platz. Einzig der Baum gab ihr ein vertrautes Gefühl. Eine Aesculus hippocastanum, Rosskastanie. Das hatte sie von Ralf gelernt. Er wusste viel über Pflanzen, und das interessierte sie wirklich. Dennoch lernte sie nur einmal in der Woche mit Ralf. Sie musste erst all die anderen Sachen lernen.
Seufzend lehnte sie sich an die Borke des Baumes und genoss das Gefühl in ihrem Rücken. Sie hatte noch so viel Zeit vor sich, in der sie sinnlose Dinge lernen musste. Alles nur, damit sie ihr Rudel schützen konnte. Als Försterin.
Werwolf zu sein war gut und schlecht. Sie lernte ein neues Rudel kennen und war von ihrem eigentlichen getrennt. Es war wie gut und böse. Sie war zukünftige Beschützerin und abwesende Leitwölfin. Es war wie warm und kalt. Sie war liebevolle Mutter ihrer Welpen und ließ sie für die Schule bei ihrer Schwester zurück. Es war wie Licht und Schatten. Sie lernte so viel Neues und verpasste so viel, was zuhause geschah. Es war wie Wolf und Mensch.
Es war wie Wolf und Mensch. Sie war ein Werwolf.
Sie war so etwas wie beides.
Und sie musste das Beste daraus machen.