Neununddreißig.
Im nächsten Jahr würde er vierzig werden.
Je länger Koichi darüber nachdachte, desto unwirklicher kam es ihm vor. Er fühlte sich noch nicht so alt. Tatsächlich fühlte er sich an manchen Tagen nicht älter als zwölf, an anderen immerhin wie Anfang dreißig. Aber fast vierzig? Nein, auf keinen Fall.
Überhaupt würde ihm das niemand abnehmen.
»Das ist total unvernünftig!«
»Du alter Kindskopf!«
»Hast du dir das auch gut überlegt?«
»Wie kann man vergessen zu essen und zu schlafen?!«
»Du willst mich ernsthaft an meinem freien Tag in den Freizeitpark schleppen?«
»Wo hast du bitte schön schon wieder so eine Verletzung her?«
So was hörte er ständig. Aber so war er nun mal. Er tat, was ihm Spaß machte, vergaß beim Schreiben von Songs und der ganzen Bandarbeit die Welt um sich herum und nahm weder Rücksicht auf sich selbst noch auf andere, wenn er ein Ventil für seine Gefühle brauchte. Und das Ventil bestand regelmäßig aus Sex, Drugs & Rock'n'Roll.
Nun ja, nicht mehr. Sex, ja. Drugs – davon war er seit Jahren endlich weg und stolz darauf. Und Rock'n'Roll … sein letzter Auftritt vor Publikum lag viele Monate zurück. Seitdem hatte er ein paar Livestreams mit seiner Akustikgitarre aus dem heimischen Wohnzimmer gemacht. Zweimal waren Jun und Gil dabei gewesen und sie hatten ein wenig gejamt und die Demoversion eines neuen Songs zum Besten gegeben. Aber das war einfach nicht dasselbe wie ein Konzert, auf dem er 500 Prozent gab und sich danach zwei Tage lang nicht bewegen konnte. Die Energie fehlte, der Drive, das Adrenalin. Aber so stürzte er sich eben in die Arbeit am nächsten Album, entwarf neue Designs und konzipierte ein Buch über sich und seine Band. Und trotz allem versuchte er bereits mit der Hilfe seines alten Manager-Freundes Ryo neue Auftritte zu planen und suchte nach Möglichkeiten, vor Publikum zu spielen. Das Konzert im Februar sollte keinesfalls die letzte Vorstellung für —GATX— gewesen sein; er würde sich keinesfalls von dieser Situation unterkriegen lassen. Also steckte er seine ganze Energie wie jedes Jahr, jeden Tag, jede Stunde in das, wofür er brannte. Seine Band. Musik. Sein Leben.
Und wie jedes Jahr hatte ihn ein Klingeln an seiner Tür aus seiner Arbeitswut gerissen. Koichi hatte sich ungelenk von seinem Schreibtischstuhl erhoben, war durch den Flur gestolpert und hatte die Wohnungstür geöffnet.
»Happy birthday, Koi!«, hatte Keita geflötet und ihm ohne Umschweife eine große weiße Tüte entgegen gestreckt. »Kuchen! Die anderen sind auch gleich da!«
Und wie jedes Jahr war Koichi wieder überrumpelt, obwohl er eigentlich damit hatte rechnen müssen. Vielleicht wurde es auch langsam Zeit, dass er damit aufhörte, sich in der Zeit um seinen Geburtstag herum besonders viel Arbeit aufzuhalsen, nur um nicht an diesen Tag denken zu müssen. Schließlich sorgten seine Freunde schon seit geraumer Zeit dafür, dass er seinen Geburtstag feierte und ihn genießen konnte. Der 14. Oktober war nicht mehr der dunkle Tag im letzten Drittel des Kalenders, dessen Existenz Koichi gern aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte. Dafür war er dankbar. Aber die Gewohnheit hatte ihn immer noch fest im Griff.
Vielleicht war sein Jubiläum im nächsten Jahr eine gute Gelegenheit, endlich dieses Kapitel zu schließen und den Beginn eines neuen zuzulassen.
Und da saß er nun, gemütlich auf den Boden vor seinem Sofa gefläzt, Keita und Jun auf der Couch, Gil, Masato, Macchan und Yuuta neben ihm, Mahiro holte sich gerade ein neues Bier aus dem Kühlschrank. Selbst Ryo war vorbeigekommen und hatte sich mit einem Tee auf dem Schreibtischstuhl niedergelassen. Auf dem Tisch in ihrer Mitte stand ein riesiger Sahnekuchen mit Kerzen, der eingerahmt wurde von einem exzentrischen Arrangement aus offenen Bier- und Saftflaschen, Chips, Salzcrackern, einem gut gefüllten Weinglas und aus irgendeinem Grund auch einem leeren Puddingbecher. Und Luftschlangen. Koichis halbes Zimmer lag voller vermaledeiter bunter Luftschlangen.
»Auf den Geburtstagskarpfen!«, rief Jun gutgelaunt und ignorierte Koichis mürrisches »Hey!« geflissentlich. Stattdessen streckte der Gitarrist seinem Bandleader die Zunge raus und hob die Bierflasche in die Luft. »Auf dass er noch weitere neununddreißig Jahre lang wie ein Zombie vor seinem Geburtstagskuchen sitzen kann, weil er tage- und nächtelang wie verrückt an neuen Songs für unsere Band gefeilt hat!«
»Auf Koi!«, riefen die anderen im Chor und erhoben auch ihre Getränke. Keita und Yuuta grinste unverhohlen, während sie alle anstießen. Selbst Macchan hatte kurz seinen Zeichenblock aus der Hand gelegt und Masato hatte sein freundlichstes Finstergesicht aufgesetzt.
»Zeit für Kuchen!«, bestimmte Keita und zog ein Feuerzeug aus seiner Gesäßtasche. »Aber erst musst du die Kerzen auspusten und dir was wünschen!«
»Du hieltest es echt für nötig, genau neununddreißig Kerzen auf das Ding zu stecken, oder?«, fragte Koichi.
»Klar!«, gab Keita ungerührt zurück und fuhr damit fort, jede einzelne Kerze anzuzünden. »Bist doch neununddreißig geworden!« Er grinste breit. »Oder haste etwa keine Puste mehr, alter Mann?«
»Na warte, dich blas ich allemal an die Wand!«
»Huuuh!«, johlte Yuuta. Ryos Wangen verfärbten sich rosa und er tat so, als hätte er die Bemerkung überhört.
Endlich brannten alle Kerzen und Keita lehnte sich zufrieden zurück.
»Auspusten, auspusten!«, skandierten Jun und Yuuta im Chor und klatschten. Die anderen fielen schnell in den Kanon mit ein.
Koi verdrehte gespielt genervt die Augen und holte tief Luft.
Ich wünsche mir, dass wir auch im nächsten Jahr so fröhlich zusammensitzen können. Und dass ich auch in neununddreißig Jahren noch das machen darf, was ich liebe, mit den Menschen, die ich liebe, dachte Koi. Und während er sich noch fragte, ob das eigentlich zwei Wünsche auf einmal waren, pustete er schon, was seine Lungen hergaben.