»Oma?«
Meine Großmutter blickte auf, als ich ihren Wohnraum betrat. Sie saß an ihrem angestammten Platz und war gerade damit beschäftigt, fein geschliffene Steine auf eine Kette zu ziehen.
»Ja, Yunadi?«
»Was hat es mit den Wesen jenseits des Nebels auf sich?«
Meine Großmutter unterbrach ihr Tun und setzte einen ernsten Blick auf. Instinktiv hielt ich die Luft an.
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Visiyta hat davon angefangen. Wir waren draußen am Kieselbach und plötzlich hat sich das Wetter geändert. Ganz schnell ist vom Berghang her Nebel aufgezogen. Da ist Visiyta aufgesprungen und hat gerufen ›Oh nein, ich will nicht von den Nebelwesen verschlungen werden!‹ und ist weggerannt.«
»Und das hast du doch hoffentlich auch getan?«
Ich nickte.
»Ich bin sofort hergekommen. Weil du gesagt hast, ich soll nicht im Nebel spielen. Aber du hast nie gesagt, warum.«
Meine Oma klopfte neben sich auf das Sitzpolster.
»Komm her, Yunadi. Ich denke, du bist jetzt alt genug, um es zu erfahren.«
Ich folgte ihrer Aufforderung und ließ mich neben ihr nieder. Ganz aufrecht saß ich da, die Muskeln im ganzen Körper angespannt.
»Du hast recht, du sollst den Nebel meiden. Wir alle tun das. Nicht nur, weil wir in den dichten weißen Schwaden nichts sehen. Sondern weil sie eine Verbindung schaffen. Eine Verbindung zwischen unserer Welt und der Welt der Nebelwesen.«
Eine Gänsehaut kroch über meinen ganzen Körper. Gebannt hing ich an ihren Lippen.
»Zum Glück ist eine direkte Verbindung zwischen unseren Welten sehr selten. Über einen Nebelbogen können die Nebelwesen zu uns gelangen, doch wir auch zu ihnen. Bisher gab es nur wenige solcher Begegnungen, doch sie sind alle nicht gut ausgegangen. Meistens verirrt sich jemand im unendlichen Weiß des Nebels von unserer Seite aus und trifft dann inmitten des Nichts auf eines der Nebelwesen. Wir wissen nicht, ob diese Wesen tatsächlich im Nebel wohnen oder ob sie sich ebenfalls nur verirrt haben. Aber wir wissen, dass es viele von ihnen geben muss und dass wir sie fürchten sollten.«
Ich schnappte nach Luft. »Warum? Sind sie … gefährlich?«
Meine Großmutter nickte.
»Ja, Yunadi. Sie sind gefährlich. Einzeln sind sie meist genau so erschrocken bei einer Begegnung mit uns wie wir uns vor ihnen erschrecken. Doch während wir weglaufen und fortan Begegnungen mit den Nebelwesen meiden, laufen sie fort, um andere Nebelwesen zu holen und zurückzukommen. Mit Feuer. Mit Geschossen aus glänzendem Metall. Mit spitzen Waffen und starken Fesseln. Im Schutz des Nebels tasten sie sich voran und wehe denen von uns, die sich in den weißen Schwaden verirrt haben. Nichts als schmerzverzerrte Schreie ist von ihnen geblieben und niemand hat sie jemals mehr gesehen.«
Mir graute es. Unwillkürlich machte ich mich ganz klein und drückte mich tief ins Polster.
»Heißt das … sie jagen und fressen uns?«
»Das weiß niemand«, antwortete meine Großmutter und strich mir über den Kopf. »Vielleicht fressen sie uns. Vielleicht foltern sie uns. Oder sie tun beides. Bisher gibt es niemanden, der davon berichten könnte. Sicher ist nur eines: Man sollte ihnen besser nicht begegnen. Deswegen nehmen wir uns in Acht und meiden den Nebel. Visiyta hat sich also genau richtig verhalten.«
Meine Großmutter machte eine Pause, in der ich versuchte, das eben Gehörte zu verarbeiten.
»Wie sehen diese Nebelwesen denn aus?«, fragte ich nach einer Weile.
»Nun, ich habe noch nie eines mit meinen eigenen Augen gesehen – zum Glück. Aber ich kenne ein paar, die ihnen knapp entkommen sind. Die Nebelwesen sind lang und dürr und haben fast keine Haare. Sie sind ganz hell, auch wenn Khaydarbi behauptet hat, schon einmal ein dunkles Wesen gesehen zu haben. Dafür tragen sie seltsame lappenartige Dinge am Körper, vermutlich um sich warmzuhalten. Ihr Kopf sind viel kleiner als unserer und ihre Gliedmaßen sind länger, besonders die unteren. Dadurch sind sie viel schneller als wir. Die Nebelwesen haben zwar keine Krallen und keine Reißzähne, aber wenn sie ihre Waffen dabei haben, haben wir ihnen nichts entgegenzusetzen. Sie sehen furchterregend aus, auch wenn sie nur zwei Augen und ein ganz kleines Maul haben. Wie langgezogene, felllose Versionen von uns.«
»Hör auf«, bat ich. »Das ist gruselig. Ich möchte niemals einen von denen sehen!«
Ich barg das Gesicht im weichen Fell ihrer Schulter und kniff all meine Augen zusammen. Ein paar Haare kitzelten mich an meinen Milchfangzähnen.
»Keine Angst. Es wurden schon lange keine Nebelwesen mehr gesichtet. Das letzte Mal vor vielen hundert Monden. Wer weiß, ob sie noch dort draußen sind. Aber sei dennoch brav auf der Hut, wenn der Nebel aufzieht und verirr dich nicht darin. Und versprich mir, niemals über einen Nebelbogen zu laufen.«
Ich spürte ihren eindringlichen Blick auf mir und nickte sofort.
»Versprochen!«
Warum sollte man auch absichtlich das Risiko eingehen, solch schrecklichen Wesen zu begegnen?