»Die Festung wird angegriffen!«
Ein Junge, vielleicht vierzehn Sommer alt, stürmte mit solchem Schwung in seine Hütte, dass die Tür krachend an den Schemel mit der Wasserschüssel schlug. Das laute Platschen und Scheppern machten klar, dass er gleich den Boden würde trocknen müssen.
»Brüll nicht so.« Aarush erhob sich und schlurfte hinüber zur Tür, nur um die Schüssel aufzuheben.
»Aber wir brauchen Eure Hilfe! Eure Magie!«
Aarush schüttelte den Kopf, ohne den Jungen noch einmal anzusehen. »Das ist zwecklos. In mir fließt keine Magie mehr. Such dir jemand anderen.«
»Aber Meister Aarush, wir schaffen es nicht allein!«
Aber Aarush kümmerte sich nicht mehr um ihn, sondern griff nach einem alten Lappen, stellte die Schüssel zurück auf den Schemel und begann, das Wasser aufzuwischen.
Der Junge versuchte es noch einmal und noch einmal, doch als der Alte ihm nicht antwortete, wandte er sich mit einem Schnauben um.
»Ihr seid ein Feigling! Nichts weiter! Hauptmann Chandresh hatte Recht.«
Dann knallte er die Tür so heftig zu, dass die kleinen Ampullen und Gläser auf dem Regal am Fenster klirrten.
Sobald er allein war, ließ Aarush den Lappen fallen und betrachtete den feuchten Fleck auf den Holzbohlen. Langsam hob er die rechte Hand und richtete sie auf die Stelle. Ein kaum hörbares Knistern erfüllte den Raum, seine Handfläche schien kaum merklich zu glühen und im Nu war die Feuchtigkeit verdampft. Zurück blieben eine leere Schüssel und ein Boden, auf dem nichts mehr an das Missgeschick erinnerte.
Aarush seufzte. Natürlich hatte er draußen den Lärm gehört, er war ja nicht taub. Und blind schon gar nicht, immerhin hatte es nur einen Blick von den Zinnen der Festung gebraucht, um zu erkennen, dass der König des Nachbarreiches in den letzten Tagen seine Streitkräfte am gegenüberliegenden Hügel zusammengezogen hatte.
Chandresh … ja, er kannte ihn schon lange. Sicherlich hatte er dem Jungen gesagt, dass es nutzlos war, ihn überreden zu wollen. Und er hatte Recht gehabt. Aarush hatte schon seit Jahrzehnten nicht mehr gezaubert – zumindest nichts außer kleine Hilfszauber innerhalb seiner Hütte. Er mochte feige sein. Doch er hatte seine Gründe. So war es für sie alle das Beste.
Der Lärm draußen wurde lauter, Aarush hörte gebrüllte Befehle, schnelle Schritte, das Klirren von Klingen und das Geschrei von verzweifelten Frauen und Kindern. Er kehrte zu seiner Küche zurück, in der er sich vor der rüden Unterbrechung gerade das Abendessen zubereiten wollte. Wenn seine Zeit gekommen war, war es so. Er konnte nichts für die Bewohner dieser Festung tun – allenfalls konnte er ihren Untergang beschleunigen und das war nichts, das sich Aarush auch noch auf die Seele laden wollte.
Am nächsten Morgen wurde seine Tür nicht gewaltsam aufgestoßen. Doch das kräftige Pochen gegen das in die Jahre gekommene Holz machte Aarush trotzdem klar, dass das nur eine Frage der Zeit sein konnte.
»Aarush!« Das konnte nur Chandresh sein.
Aarush schwieg und warf sich das Gewand über. Seine Morgentoilette hatte er gerade beendet.
»Aarush, ich weiß, dass du da bist! Mach die Tür auf, du elendiger Duckmäuser!«
Aarush überlegte gerade, ob es etwas brachte, sich weiterhin ruhig zu verhalten, als mit großer Wucht etwas in der Nähe einzuschlagen schien. Die Wände und der Boden seiner Hütte bebten und Chandresh fluchte ungehalten. Im selben Moment stieß der Hautpmann die Tür auf.
»Ich habe dir nicht erlaubt, reinzukommen«, sagt Aarush ruhig, bevor Chandresh ganz in seiner Stube war.
»Als würde mich das kümmern!«, spuckte Chandresh ihm entgegen und baute sich vor ihm auf. »Unsere tapferen Soldaten sterben wie die Fliegen und der Nordturm ist unter den heftigen Angriffen bereits eingestürzt. Das Tor und die Westseite halten nicht mehr lange stand. Und wie es aussieht, haben sie einen verdammten Magier dabei, der ihre Katapulte mit Zaubern belegt, damit die Geschosse einen noch größeren Schaden verusachen. Wir brauchen deine Hilfe und du verkriechst dich hier in deiner Hütte, als ginge dich das alles nichts an, du feiger Hund!«
»Du weißt genau, dass es für alle besser ist, wenn ich nicht eingreife«, gab Aarush zurück. Er wandte sich ab und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Sortieren von ein paar Pergamenten, in denen er in der Nacht gelesen hatte.
»Ein elendiger Feigling bist du, das weiß ich!«, grollte Chandresh, überwand die Distanz zwischen ihnen mit schweren Schritten, packte Aarush an der Schulter und wirbelte ihn herum. »Du nimmst in Kauf, dass Menschen sterben – Menschen, die mir etwas bedeuten, wenn sie schon dir nichts zu bedeuten scheinen! – und dass die armen Seelen, die übrig bleiben, ihre Heimat und alles, was sie lieben, verlieren! Wer weiß, welches Schicksal sie erwartet, wenn sie dem Feind in die Hände fallen! Womöglich wäre der Tod gnädiger gewesen! Und alles, was du tust, ist die Hände in den Schoß zu legen und dich in deiner Hütte zu verstecken!«
»Du weißt genau, was beim letzten Mal passiert ist, als ihr mich um Hilfe gebeten habt!«
Chandresh wollte etwas erwidern, doch auch ihm mussten die schrecklichen Bilder von verbrannten Leibern lebhaft vor Augen stehen – so lebhaft, wie Aarush sie jede Nacht in seinen Träumen sah.
»Tut mir leid, ich zaubere nicht mehr. Ihr müsst euch an jemand anderen wenden.«
Chandresh packte ihn fest an den Schultern. »Es gibt niemand anderen. Es gibt nur dich! Du bist der einzige, der diesen verdammten anderen Magier ausschalten kann und ein Fingerschnippen von dir reicht, um einen Feuerregen auf die Angreifer niederregnen zu lassen!«
»Der Preis wäre viel zu hoch!« Aarushs Stimme hatte ihre Ruhe verloren, er versuchte, sich aus Chandreshs Griff zu winden, doch erfolglos. Draußen donnerte eine Kompanie Soldaten entlang, vermutlich zur Sicherung des Tores auf der Westseite.
Chandresh beugte sich so nah an Aarush heran, dass ihre Nasen sich fast berührten, und blickte ihm fest in die Augen. »Ich habe nicht vergessen, was damals passiert ist. Und ich finde, du hast nun genug Buße getan. Ich weiß, dass du nichts davon wolltest, was geschehen ist. Und ich weiß auch, dass du sehr wohl noch zaubern kannst und Himmel noch eins, es ist höchste Zeit, dass du das zeigst!«
»Wie kannst du das sagen, wo ich doch Schuld daran bin, dass du deine Familie …«
Chandreshs Griff wurde so fest, dass Aarush verstummte.
»Es ist Jahrzehnte her«, presste er hervor und seine Stimme kratzte. »Jetzt ist es Zeit, deinen Fehler wiedergutzumachen! Wenn du schon mit der Schuld nicht leben kannst, damals als junger Zauberer deine Kräfte nicht richtig einschätzen zu können … wie kannst du dann mit der Schuld leben, dass viele Unschuldige sterben werden, weil du dich lieber feige verkrochen hast, anstatt alles in deiner Macht Stehende zu tun, um ihnen zu helfen? Wenn niemand auf dich vertrauen würde, hätten wir dich schon vor Jahren aus der Stadt gejagt!«
Aarush brachte keine Erwiderung hervor.
Endlich ließ Chandresh ihn los, doch noch immer starrte er ihn eindringlich an.
»Brau eine Tinktur, wenn du sie brauchst, aber sieh zu, dass du spätestens in einer Stunde oben auf den Zinnen bist. Wir halten nicht mehr lange stand. Dein Feuer ist das einzige, das uns noch retten kann.«
Damit drehte er sich um, durchmaß die kleine Hütte mit wenigen Schritten und verschwand durch die Tür, ohne sie zu schließen. Aarush starrte ihm hinterher, sah durch die geöffnete Tür Kinder, Frauen und Männer jeden Alters umhereilen, oft beladen mit ihren wenigen Habseligkeiten oder bewaffnet mit Schwertern, Speeren oder einfachen Holzflegeln. Alle waren auf den Beinen. Alle suchten Schutz oder leisteten ihren Teil des Widerstandes. Nur Aarush hockte in seiner Hütte und suhlte sich in seinem Selbstmitleid über den furchtbaren Fehler, den er vor vielen Jahren begangen hatte.
Niemand hatte ihn fortgejagt. Natürlich hatte es Klagerufe, Anklagen und böse Worte gegeben, aber niemand hatte ernsthaft versucht, ihn zu verbannen oder für das schreckliche Feuer grausam zu ermorden.
Aarush ballte die Hände zu Fäusten. Als er draußen ein lautes Krachen, gefolgt von panischen Rufen und lauten Befehlen, hörte, trat er aus der Tür und suchte Chandresh. Er entdeckte den Hauptmann unterhalb des Westturms, von dem nicht mehr als ein paar lose Steine und Holzscheite übrig waren. Chandresh bemerkte ihn auch und für einen Moment schien er überrascht. Dann nickte er mit grimmigen Gesicht und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Westmauer.
Es war Zeit.