Einundzwanzig Jahre ist es her. Einundzwanzig lange Jahre. Manchmal kommt es mir vor, als sei all diese Zeit nicht mehr als ein Wimpernschlag, das Flackern einer Kerzenflamme im Wind. Ein Augenblick. Ein Trugbild nur. Als wäre es nicht längst Herbst geworden, in diesem Jahr und in meinem Leben, sondern noch immer Frühling, dieser wechselhafte Frühling von 1805.
Und nun? Was ist geblieben von diesen warmen Monaten im Garten, von den verregneten Tagen, die einen nach drinnen trieben, vom Streben und Werden, vom fruchtbaren Boden, auf den meine Worte jederzeit fielen?
Nichts als Erde, als feuchte Kälte, als totes Gebein. Nichts als dieser Schädel, einst bis zum Bersten angefüllt, überfüllt mit geniereichen Gedanken, mit liebevollen, inspirierenden, trefflichen Worten, einem Feuer gleich, das heiß und innig brannte, nun leer und verloschen und tot. Ach, hätt die Krankheit dich doch nicht zerfressen, dich weggerissen viel zu früh von meiner Seite, an der du doch so kurz – zu kurz – erst weiltest. Ich wünscht', es wär April geblieben, wär niemals Mai geworden, zehntausend Regentage hätt ich ertragen, wärst du mir nur geblieben.
Nun sitz ich hier allein, die Kerzen in meinem Raum erzittern mit jedem Seufzer, mit jedem Wind vom Fenster her, vor dem die Nacht steht wie ein Heer aus finsteren Soldaten, allein, verlassen, seit einundzwanzig Jahren.
Ich kann noch immer ich sein, kann Verse schmieden, Dramen dichten, kann schlaue Reden schreiben und mir die Natur, die Menschen, das Leben betrachten, kann erkunden, was die Welt im Innersten zusammenhält, kann Röcke haschen, in Schößen versinken, kann Länder bereisen und Gedanken erdenken, in meinem Lehnstuhl sinnieren und erst am Morgen einschlafen.
Doch mein Ich ist nur ein halbes Ich, seit ich die Kunde erhielt, dass du vorausgegangen bist. Nie werde ich mehr ganz. Du gingst voraus und nahmst die Hälfte meiner Seele mit.
Was bleibt, sind deine Briefe. Deine Besuche in meinem Haus. Meine Besuche in deinem Haus, in deinen Häusern. Hier. In Jena. Andernorts. An so vielen Orten hast du gelebt und geschaffen und warst doch immer heimatlos. Und ruhelos. Und als du endlich, endlich angekommen warst, nur einen Steinwurf von mir entfernt, endlich zu Hause in deinem eigenen Haus, da riss der Tod dich wie ein Winterblatt vom starren Ast.
Wie sie dich aufschnitten, dich untersuchten, dich zusammenflickten und begruben, deinen Leib im Kassengewölbe beisetzten, wie deine Frau, deine Kinder, deine Freunde und Bekannten weinten, wie sie alle dich verabschiedeten … nichts davon habe ich erlebt. Ich konnte es nicht, konnte es noch nie, nicht einmal für dich konnte ich eine Ausnahme machen, auch wenn ich schon auf halbem Wege gewesen war zum Jacobsfriedhof, so bin ich doch bei der nächstbesten Gelegenheit abgebogen und an der Ilm entlang gelaufen. Weiter, über die Wiesen und durch den Park, bis zu meinem Gartenhaus, in dem ich mich zwei Tage lang vergrub und keinen sehen wollte, nicht einmal Christiane. Es graust mich vor dem Tod, vor dem Anblick toter Menschen und niemand, niemand soll meine Tränen sehen. Nur dir hätte ich sie gezeigt, doch deine Augen waren gebrochen, für immer erblindet, vom Diesseits abgewandt.
Verzeih mir, Friedrich, dass ich ein Feigling bin. Doch selbst nach einundzwanzig Jahren schmerzt mich die Brust, wo mir die halbe Seele fehlt, wenn ich an dich denke, wenn ich deine Briefe, dein Werk betrachte. Wenn ich, der noch aus Fleisch und Blut, hier deinen Schädel vor mir sehe, der solche Wunder einst erdacht und nun, einer dürren Schale gleich – verloren gegangen der pulsierende Kern – nicht mehr ist als die leere Hülle, vom Geist befreit und Moder und Kälte einst übergeben … dann graust es mich und tröstet mich zugleich. Du bist bei mir. Und sitz ich auch allein in meinem Arbeitszimmer, das Allerheiligste vor mir am Tisch auf Samt und Seide sacht gebettet, so bin ich doch erfüllt mit deinem Geiste, mit der Erinnerung an all die Tage, Wochen, Monde, die wir sinniert, gestritten und erfunden haben. Ich fühle noch das Pergament unter meinen Fingern, die Feder hüpft und tanzt darüber, ganz ohne Unterlass, nur nicht ein einzig' Wort versäumen, keinen Gedanken ungedacht, keine Idee verloren gehen lassen.
Ich weiß, ich muss dich wieder betten, dort in das Grab, aus dem ich dich entriss. Man will dich zeigen, dein Genie, das unsichtbar und längst verflossen ist, will dich empor holen aus der Grotte, ins Licht, zurück, zurück zu uns. Zwischen all den Büchern, auch den deinen, dort sollst du dich nun zur Ruhe betten, wo Menschen geh'n tagein, tagaus. Viel lieber würd ich dich ganz nah bei mir behalten, hier ist es still und warm und gut.
Doch wie ich deinen Geist stets in mir trage, stets bei mir halte, was ich einst mit dir erlebt, so muss ich auch diesen Anblick bei mir tragen, mir einbrennen, auf dass ich ihn nicht vergesse. Geblieben ist uns nur die leere Hülle, das Gerüst, das deinen Leib, dein Genie trug. Du bist vorausgegangen und lässt mich hier zurück.
Doch auch mein Lebenslicht beginnt zu flackern, ich spüre die Kühle von der Dämmerung zu mir fließen, sanft und sänftigend versickert sie in meinem Herzen. 's ist nicht mehr lang, geliebter Friedrich, an deiner Seite werd ich sein, an deiner Seite will ich wieder wandeln und sinnen, streiten, tief verbunden sein.
Die Kerzen werfen Schattenspiele mir an die Wände und dir aufs knöcherne Gesicht. Es ist, als blicktest du mir entgegen, aus Schattenaugen mit dem Schattenblick. Erwarte meiner, lieber Friedrich, bald komme ich zu dir zurück.