Makoto hatte sich hübsch gemacht. Frisch rasiert – nicht nur im Gesicht –, die blondierten Haare ordentlich frisiert, ein gutes Hemd, eine schwarze Röhrenjeans, Lederschuhe statt alltäglicher Turnschuhe. Als er an einem Schaufenster an der Hauptstraße vorbeilief, überprüfte er kurz sein Äußeres. Alles saß. Erleichtert ging Makoto weiter, bog ab in die Untiefen von Nitchome.
Makoto. So nannte er sich hier. Von den Hochhäusern und Kellerbars lächelten ihm die Hosts in Großaufnahme entgegen, geordnet nach der Beliebtheit in ihren Clubs. Perfekte junge Männer, frei von jeglichem Makel, von Hässlichkeit, von Zweifeln. Verführerisch und aufgeschlossen und wunderschön wirkten sie. »Wähl mich!«, schienen sie ihm zuzurufen, als Makoto durch die Straßen von Kabukicho streifte.
Zu gerne hätte er einen von ihnen ausgewählt, hätte mit ihm einen netten Abend verbracht, hätte sich in Gesprächen und mit kleinen Gesten einlullen lassen, viel zu viel für Alkohol und die Nähe seines Auserwählten bezahlt und vielleicht sogar eines der berüchtigten After Hour Dates ergattert, wenn er sich gut angestellt hätte. Aber die Männer auf den überlebensgroßen Bildern waren unerreichbar für ihn. Wortwörtlich.
»Hey, hast du Lust, was zu trinken?«, sprach ihn ein junger Mann im weißen Anzug an. Er lächelte kess. Das Haar trug er in einer der typischen Frisuren für dieses Viertel, nach vorn gestylt und leicht auftoupiert. Und natürlich war sein Haar gebleicht, wenn auch nur mittelbraun. Er wirkte wie ein typischer Novize, der auf den Straßen auf Kundenfang geschickt worden war. Vielleicht war er gerade erst volljährig geworden.
Eine Mischung aus Bewunderung und Eifersucht wallte in Makoto auf. Wieso konnte er es ihm nicht gleichtun? Er war ansehnlich und offenherzig, sicherlich würde er hunderte Kunden jede Nacht einfangen. Aber das war unmöglich. Vollkommen unmöglich.
»Na, wie ist's? Ich kenne einen guten Club!«
Makoto hob die Hände, murmelte eine freundliche Entschuldigung und lief weiter. Doch es dauerte nicht lange, da wurde er wieder angesprochen. Eingeladen. Mit Blicken taxiert und begutachtet.
Einerseits schmeichelte ihm die Aufmerksamkeit. Andererseits wusste er, dass sie nicht wirklich ihm galt. Er war ein potenzieller Kunde. Natürlich hatten die Männer auf den Straßen Interesse an ihm.
Doch er lehnte jedes Angebot mit einem Lächeln ab. Er hatte bereits ein Ziel.
Je weiter er lief, desto ruhiger wurden die Gassen. Hell erleuchtete Werbeplakate und Clubeingänge wichen schummrigen Häusern, die sich in die Schatten der Nacht drückten und die Aura einer wieder anderen Welt versprühten. Natürlich gab es hier immer noch Clubs, Massage-Studios und Bars aller Couleur. Doch die Dichte an Hotels hatte rapide zugenommen.
An einem Lawson bog Makoto rechts ab, lief durch eine schmale, für Tokyoter Verhältnisse kaum beleuchtete Seitengasse und schlüpfte nach einem prüfenden Blick über die Schulter um die nächste Ecke.
Da lag es vor ihm. In sinnlich geschwungenen, pastellrosa Leuchtbuchstaben stand »La vie« über dem Eingang des schlichten, farblosen Betongebäudes. Ein Schild neben den Glastüren wies den Stundenpreis und den Preis für eine ganze Nacht aus. Und genau unter dem Schriftzug wartete der Grund, warum Makoto diesen Abend nicht in der gemeinsamen Wohnung von ihm und seiner Freundin verbrachte.
»Bist du Makoto?«, fragte der Mann, als sie kaum mehr einen Meter voneinander entfernt waren. Für Makotos Dafürhalten sah er atemberaubend gut aus in seinen hellen Hosen, dem Satinhemd, dessen obere Knöpfe offen gelassen hatte und den zu einem lockeren Zopf gebundenen, halblangen schwarzen Haaren.
Makoto nickte nur als Antwort. Er traute seiner Stimme nicht.
Der Mann musterte ihn von oben bis unten. Schließlich schien er zufrieden mit dem, was er sah. Makoto atmete verhalten auf.
»Hast du Erfahrung?« Der Blick seines Gegenübers wurde kritisch.
»Ja«, erwiderte Makoto mit fester Stimme. Die Lüge war ihm leichter von den Lippen gegangen, als er vermutet hatte.
»Sehr schön. Nur eine Sache noch … bitte zeig mir deinen Ausweis. Ich muss sichergehen.« Makoto kam der Aufforderung widerstandslos nach. Damit hatte er gerechnet.
Der Mann warf einen Blick auf das Dokument und nickte wortlos.
»Na dann«, sagte er, wandte sich halb zum Eingang des Hotels und ließ Makoto bei sich unterhaken. Als sich ihrer beider Arme berührten, lief ein Schauder über Makotos Haut. Der Duft des Aftershaves seines Gegenübers stieg ihm in die Nase. Würzig, holzig, frisch. Männlich. »Dann auf ein paar schöne Stunden, Makoto.«
Das Timbre des Mannes vibrierte tief in Makotos Brust und er fühlte sich mit einem Mal federleicht und tonnenschwer zugleich. Nun gab es kein Zurück. Dies war die einzige Möglichkeit, es herauszufinden. Ob das, was an ihm nagte, was ihn den Schlaf kostete in jeder Nacht, die er in zerwühlten Laken lag und vergeblich die Augen schloss, unerfüllte Träume waren. Oder Alpträume.