Das Klirren und Splittern war furchtbar. Kaum hatte die Tasse die Fliesen berührt, stoben ihre Einzelteile in alle Richtungen davon, manche so klein wie Staubkörner, das größte gerade mal so lang wie meine Daumenkuppe. Auf dem kompletten Küchenboden lagen mintgrüne und weiße und goldene Splitter verteilt.
Das konnte er nicht überhört haben.
Mein Blick flackerte zur Küchentür herüber, in der festen Erwartung, Rob wie den personifizierten Rachefeldzug anrauschen zu sehen.
Aber natürlich blieb der Türrahmen leer. Wie sollte Rob auch einzig am Geräusch erkennen, dass ich gerade seiner Lieblingstasse den Garaus gemacht hatte?
Ich sah wieder auf die Bescherung auf den Küchenfliesen. Da war nichts mehr zu machen. Die Tasse war nahezu pulverisiert. Besser gleich wegmachen, bevor die Katze auf die Idee kam, genau jetzt einen Spaziergang zu ihrem Futternapf zu unternehmen und ich schon mal vorsorglich den Tiernotdienst anrufen konnte.
Ich stieg über den Trümmerhaufen hinweg und lief auf dem Weg zum Flurschrank, in dem wir Handfeger und Schippe aufbewahrten, fast in Rob hinein.
»Jojo, alles in Ordnung? Ich hab irgendwas klirren gehört.« Er strich sich die Haare aus der Stirn, musterte mich und schielte dann in die Küche.
»Alles okay«, gab ich zurück, griff nach den Utensilien und versuchte gleichzeitig, ihn am Betreten der Küche zu hindern. »Mir ist nur was runtergefallen beim Abwaschen.«
»Ach so. Na, dann pass auf, dass du dir beim Auffegen nicht wehtust.«
Rob war schon halb auf dem Rückweg in sein Zimmer und ich atmete verhalten auf, als er mitten im Schritt innehielt. Er machte kehrt, hängte sich in den Türrahmen und fixierte eine der größeren Scherben, die fast bis zur Türschwelle gerutscht war.
»Ist das etwa meine Lieblingstasse gewesen?!« Ich wusste nicht, dass Robs Stimme so schrill klingen konnte. Er wandte sich zu mir um und pure Verzweiflung stand in seinen Augen.
»Äh, ja«, gab ich zurück. »Tut mir leid. Ich kauf dir eine Neu…«
»Nein!«
Rob stürzte in die Küche, penibel darauf bedacht, keines der Bruchstücke zu zertreten, dann ließ er sich auf die Knie fallen und begann, einzelne Scherben und Scherbchen in seine Handfläche aufzusammeln.
Ich stand perplex herum nach seinem heftigen Ausbruch. Aber als er unter den Tisch krabbelte, löste sich meine Schockstarre endlich.
»Wie war das bitte mit dem ›Pass auf, dass du dir nicht wehtust‹? Was machst du da bitte? Rob, hör sofort auf damit!«
Ich trat hinter ihn, doch er quietschte mich mit derselben hohen Stimme an: »Tritt ja nirgendwo drauf! Wir müssen alle einsammeln!«
»Rob!«
Keine Reaktion. Er sammelte manisch weiter Scherben ein.
»Rob!« Diesmal mit mehr Nachdruck.
Er hielt endlich inne.
»Was soll der Affenzirkus? Es tut mir leid, dass ich deine Tasse kaputt gemacht hab. Ich kauf dir eine neue Tasse. So was wird's schon noch mal irgendwo geben.«
»Gibt es nicht!«
»Ach Quark, das war doch eine ganz normale 08/15-Tasse.«
»War es nicht!«
Rob wandte den Kopf und funkelte mich trotzig an. Oder zumindest meinte ich, Trotz in seinen Augen zu erkennen. Neben etwas anderem, das in seinem Augenwinkel verräterisch glitzerte.
»Hilf mir lieber, die Scherben einzusammeln. Auch die ganz kleinen … dann können wir das sicher kleben … wenn wir nur alle Teile haben …« Er war schon wieder dabei, mikroskopisch kleine Stückchen aufzupicken.
»Rob, das kann kein Mensch wieder zusammensetzen!«, versuchte ich ein letztes Mal, ihm Vernunft einzutrichtern. Doch meine Worte schienen an ihm abzuperlen.
Die nächste Minute verbrachte ich damit, Rob stumm dabei zu beobachten, wie er über den Boden robbte und jeden Fitzel auflas, dessen er habhaft werden konnte. Vermutlich sammelte er dabei auch allerhand Schmutz auf, denn zum Saugen waren wir in dieser Woche noch nicht gekommen. Es war ein seltsam jämmerliches, aber auch ein beunruhigendes Bild.
»Rob. Das ist doch vergebene Liebesmüh'. Warum ist diese Tasse denn so wichtig?«
»Sie ist das einzige, was ich aus dem Haus meiner Oma mitnehmen konnte.«
Ich schluckte.
Ganz großes Kino, Johannes. Du hast Robs einziges Erbstück zerstört.
Welcher Idiot bewahrte so etwas Wichtiges aber auch im Küchenschrank auf und benutzte es fast täglich?!
Dieser Idiot, der da vor dir kniet, beantwortete ich meine eigene gedankliche Frage und wusste gleichzeitig immer noch nicht, was ich sagen sollte. Außer …
»Tut mir wirklich leid, das wusste ich nicht.«
»Mh«, machte Rob nur und spielte weiter Sisyphos.
Ich sah ihm noch ein paar Sekunden lang zu, dann ging ich vorsichtigen Schrittes auf ihn zu und fasste nach seiner Schulter.
»Im Ernst, Rob. Das bringt nichts. Die Tasse ist hin. Das kann kein Mensch der Welt wieder zusammensetzen. Hör auf.«
Rob hörte tatsächlich auf. Zumindest mit dem Aufsammeln. Aber als er mir das Gesicht zuwandte, wurde mir klar, dass er mit dem Weinen so schnell nicht aufhören würde.
Verdammt noch mal.
Also musste Plan B her.
Ich ließ mich neben ihm in die Hocke gleiten, legte einen Arm um seine Schultern und zog ihn an mich. Zuerst war er überrascht, ließ es dann aber geschehen. Vorsichtig strich ich ihm übers Haar und hauchte ihm dann einen Kuss auf die Stelle. Mit der freien Hand krallte er sich in mein Hemd. Im letzten Moment konnte ich ein scharfes Einatmen verhindern und ließ es geschehen – das konnte ich später immer noch bügeln.
Wir saßen eine Zeit lang still auf dem Boden herum, die meine Gedanken nutzten, um tatsächlich in eine brauchbare Richtung zu laufen.
»Rob?«, fragte ich und wartete, bis ich seine Aufmerksamkeit hatte. »Ich hab eine Idee.«
Zwischen all der Traurigkeit in seinem Blick keimte Hoffnung.
»Irgendwo hier muss ein Stück liegen, das ungefähr drei Zentimeter groß ist. Lass uns das suchen und einen Kettenanhänger draus machen.«
Robs Gesicht hellte sich merklich auf. Sofort löste er sich von mir, ließ die gesammelten Splitter fallen und krabbelte auf dem Fliesenboden herum, bis er das besagte Bruchstück gefunden hatte. Triumphierend hielt er es in die Höhe.
»Jojo, das ist eine wunderbare Idee!«
»Ich kenne jemanden, der selbst Schmuck herstellt. Bestimmt kann er das Stück schleifen oder in Harz gießen oder er kennt jemanden, der das machen kann. Wie auch immer. Ich bezahl das Ganze und dann hast du zumindest ein … na ja, ein Stück von deinem Erinnerungsstück an deine Großmutter.«
»Danke, Jojo! Das ist wirklich wundervoll!« Rob fiel mir um den Hals und schien schon vergessen zu haben, dass ich es war, der gerade das Andenken an seine Oma pulverisiert hatte.
»Schon gut«, murmelte ich und schob ihn von mir. »Dann halt es jetzt gut fest und raus hier, ich muss den Rest auffegen, bevor Frieda sich entscheidet, mal nach uns zu sehen.«
Rob tat glücklicherweise, wie geheißen, und zu meiner grenzenlosen Freude verkrümelte er sich aus der Küche in Richtung Wohnzimmer, vermutlich um zu verhindern, dass Frieda sich selbst zum Fakier machte.
Ich griff indes nach Handfeger und Schippe und beseitigte gewissenhaft die Spuren meiner Trotteligkeit. Und ich nahm mir vor, Rob zu fragen, ob er noch mehr von solchen wichtigen Teilen so achtlos in unserer Wohnung verteilt hatte.
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Hier gibt es noch mehr von Jojo und Rob:
- Wie das Feuer zum Wasser kam: https://belletristica.com/de/books/20331-wie-das-feuer-zum-wasser-kam
- Wie Frieda zu ihnen kam: https://belletristica.com/de/books/20333-frieda
60-Minuten-Geschichten:
- Firlefanz: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/88195-2020-01-29-firlefanz
- Gänseblümchen: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/94944-2020-03-18-ganseblumchen
- Ostereier: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/97661-2020-04-08-ostereier
- Dämmerlicht: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/102794-2020-05-10-dammerlicht