Das graue Licht sickerte träge durch die Fensterscheiben ins Zimmer. Es reichte nicht aus, um den Raum zu erhellen und so blieb alles dämmrig. Bedrückend. Zu dunkel, um irgendwas klar erkennen zu können.
Eine fantastische Metapher dafür, wie ich mich gerade fühlte.
Dass Rob mich nicht aus den Augen ließ und nichts mehr sagte, machte es nicht besser. Sein angestrengter Blick war vermutlich nicht nur auf die schlechten Lichtverhältnisse in seinem Zimmer zurückzuführen.
Er wartete.
Er wartete auf irgendeine verdammte Antwort von mir.
Aber mein Kopf war – entgegen meiner üblichen Schlagfertigkeit – wie leergefegt. Meine Güte, ich war nur in sein Zimmer gekommen, um ihn zum Abendessen zu holen, weil er auf mein Rufen nicht reagiert hatte!
»Also?«
Das Wort schwebte zwischen uns wie eine Nebelwolke an einem Wintertag. Und genauso frostig fühlte es sich an. Dabei waren am Nachmittag noch knapp vierundzwanzig Grad und eitel Sonnenschein gewesen.
»Wie …« Ich räusperte mich. »Wie kommst du denn jetzt so plötzlich darauf?«
»So plötzlich?«, echote Rob. Er klang müde. »Jojo, wir haben Mai. Erinnerst du dich überhaupt noch an den Dezember?«
Ich schluckte. Natürlich erinnerte ich mich. Nur zu gut erinnerte ich mich. Dieser unselige dritte Advent und die Woche darauf würden mir nie wieder aus dem Kopf gehen. Und auch nicht der Samstag vor dem vierten Advent.
Röte schoss mir ins Gesicht, ich fühlte deutlich die Hitze auf meinen Wangen. Verdammt, ich war doch keine zwölf mehr! Ich war ein erwachsener Mann, Rob war ein erwachsener Mann, wir beide waren verdammte erwachsene Männer!
Aber das war womöglich das Problem.
Ich seufzte. »Ja. Ja, natürlich erinnere ich mich.«
Rob sah mich weiterhin mit diesem Blick an, bei dem mir trotz meines brennenden Gesichts kalt wurde. Der tollpatschige, planlose Rob war mir lieber als der ernste. Deutlich lieber. Wegen mir konnte er unsere Küche unter Wasser setzen oder Friedaland 2.0 in unserer gesamten Wohnung bauen, solange er mich nicht so anschaute.
»Ich will dich nicht unter Druck setzen. Wirklich nicht. Aber es sind fünf Monate vergangen seit … na ja, seit gar nicht mal so viel passiert ist.«
»Für mich war das alles andere als ›gar nicht mal so viel‹!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte eine Falte in Robs Bettlaken. Ein blöder Gedanke tastete sich aus irgendeiner versteckten Hirnwindung heran und ich sah schnell weg. Stattdessen glotzte ich auf den Teppich, als hätte ich ihn noch nie gesehen. Könnte mal wieder gesaugt werden.
»Ich weiß«, gab Rob zurück. Leise. Sanft. Aber nicht weniger ernst. »Mann, Jojo, ich weiß es. Aber seitdem wir Weihnachten verbracht haben, ist alles wie immer. Wie … vorher.«
»Na ja, nicht ganz. Wir haben jetzt eine Katze!«
Mein Witz ging ins Leere, Rob blinzelte nicht einmal. Erneut seufzte ich.
»Rob, ich weiß nicht, was du jetzt hören willst.«
Entgegen meiner Erwartung zögerte mein Mitbewohner keine Sekunde mit seiner Erwiderung. »Hast du dir in all den Wochen überhaupt nur ein einziges Mal Gedanken darüber gemacht, wie es mit uns weitergehen soll?«
»Natürlich!« Wut flackerte in mir auf.
»Also?«
»Also …« Und schon war die Wut wieder in sich zusammengeschmolzen. Ich suchte nach Worten. Ich hasste das. Sonst hatte ich auf alles eine Antwort. Sonst war ich es, der Rob Vorträge hielt. Der der Vernünftigere von uns beiden war. Der einen Plan hatte. Der den Durchblick hatte und mit jeder Situation umgehen konnte. Aber jetzt fühlte ich mich hilflos.
Nein, ich hatte mir nach Weihnachten keine Gedanken mehr gemacht. Rob hatte keinen Druck gemacht. War sogar ein wenig auf Abstand gegangen. Hatte mir keine Fragen gestellt, war nicht über mich hergefallen, hatte das Thema nicht mehr angesprochen. Vermutlich war ich deshalb ganz selbstverständlich zum Alltag übergegangen. Hatte mir keine Gedanken gemacht.
Ich hatte mir keine verdammten Gedanken mehr gemacht!
Das war die Wahrheit. Alles andere wäre eine faustdicke Lüge gewesen und ich war zwar jähzornig und kaltschnäuzig und wegen mir auch ungeschickt bei allem, was nicht mit Rationalität zu erfassen war, aber eines war ich nicht: Ein Lügner.
»Tut mir leid, Rob«, brachte ich nur heraus und hatte Mühe, in der schwindenden Dämmerung die Fusseln auf dem Teppich zu erkennen. »Wir sind einfach zum Alltag übergegangen und … da hab ich nicht mehr darüber nachgedacht. Das war … bequemer.«
»Für mich nicht.«
Ich blickte auf und hätte am liebsten die Flucht ergriffen bei dem Gesicht, das Rob machte.
»Jojo, ich hab dich gern, wirklich gern. Und ich weiß, dass du dir eigentlich nichts aus Männern machst, aus solchen Chaoten wie mir vermutlich noch weniger. Aber … kannst du es dir denn … so gar nicht vorstellen? Bin ich dir doch nicht so wichtig? War das gelogen, weil du mich nicht verletzen wolltest?«
»Nein!«
Das war so vehement aus mir herausgebrochen, dass Rob zusammenzuckte. Wie Rumpelstilzchen tanzte ich durch den Raum, unfähig, irgendeinen sinnvollen Satz herauszubringen. Was tat man in so einer Situation? Gab es irgendeine Anleitung? Was waren die richtigen Worte? Los, du verdammtes Organ in meinem Kopf, spuck irgendwas Brauchbares aus!
»Ich meine, natürlich wollte ich dich nicht verletzen, aber ich hab gemeint, was ich gesagt habe. Und was ich gemacht habe.«
Obwohl was ich gemacht habe, nicht mehr als ein schüchterner, flüchtiger Kuss auf Robs Stirn und eine feste Umarmung waren. Und ein paar Gespräche an den Weihnachtsfeiertagen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir eine komplette Nacht bei Google um die Ohren geschlagen hatte, um mehr über die eventuellen nächsten Schritte einer homoerotischen Beziehung zu erfahren. Und ganz im Ernst: Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Schritte gehen wollte. Echt nicht.
Andererseits … wenn ich Rob betrachtete, wie er mit einer Mischung aus Unsicherheit, Resignation und Hoffnung vor mir stand, hatte ich schon das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen und ihm zu versichern, dass schon alles gut werden würde.
Aber damit sich alles in rosa Zuckerwattewölkchen auflösen konnte, musste ich etwas tun. Nur was?
»Hör zu Rob«, begann ich, um Zeit zu gewinnen. Er blickte mich aufmerksam an. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Fürs erste entschied ich mich für Ehrlichkeit. Zumindest die hatte Rob verdient. »Ich wusste nicht, dass dich das so beschäftigt. Eigentlich hätte es mir klar sein müssen. Aber auf diesem Auge bin ich offenbar blind. Es tut mir leid, dass ich da so gedankenlos war, obwohl du dir Klarheit und den nächsten Schritt wünschst.«
Rob sagte nichts. Er hörte mir schweigend und mit unbewegtem Gesicht zu. Das machte es nicht unbedingt einfacher für mich. Warum musste er in einem solchen Moment so erwachsen wirken? Ich kam mir vor wie ein dummer Schuljunge, der als einziger zum wiederholten Mal einen dummen Fehler gemacht hatte.
»Mann, Rob, schau mich nicht so an. Was willst du jetzt von mir hören?«
»Was bin ich für dich, Jojo?«
»Rob, mein Mitbewohner und der Mann, der mir im Dezember seine Liebe gestanden hat.«
Rob schluckte. »Genau. Der Mann, dem du im Dezember gesagt hast, dass du dich auf ihn einlassen würdest. Dem du gesagt hast, er solle seine Hoffnung noch nicht aufgeben.« Er machte eine Pause und in seine Augen schlich eine Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürte. »Ist jetzt der Moment, in dem ich die Hoffnung aufgeben sollte?«
»Nein«, brachte ich erstickt heraus und hätte schreien mögen. Aber es ging nicht. Es ging einfach nicht. Ich hatte Rob verletzt, schon wieder, monatelang diesmal. Und ich hatte es nicht gemerkt, ich hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Meine Sicht verschwamm.
»Jojo …« Robs Stimme war mit einem Mal so sanft, dass sie mir einen Schauder den Rücken hinabjagte. Und vor allem: Sie war deutlich näher aus zuvor. Schon spürte ich seine Finger an meiner Wange, die noch immer brannte. Doch da war noch etwas. Feuchtigkeit.
»Hey, Jojo, nicht weinen.«
»Ich weine ni…« Doch, ich weinte. Und wie! »Scheiße!«
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen, beließ den Arm dann an der Stelle und versuchte, diesen schmachvollen Anblick, den ich bieten musste, zu verstecken. »Scheiße«, murmelte ich vor mich hin.
Ich spürte, wie Rob mich umarmte, mich an sich zog und mich festhielt. Ich wollte ihn wegstoßen, doch mir fehlte die Kraft. Also grub ich einfach die Hände in sein Shirt und ließ den Kopf an seine Schulter sinken, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich ein Wort herausbekam. Also, etwas anderes als halberstickte Flüche.
»Ich hab einfach Angst, Mann.«
»Ich weiß, tut mir leid.«
»Wofür entschuldigst du dich bitte?!«
»Ich wollte dich doch nicht unter Druck setzen.«
»Papperlapap!« Ich wischte mir energisch über die Augen und löste mich von ihm. »Vergiss das hier gefälligst, klar?!«
»Was?« Rob sah mich an, aber der kühle, traurige Ausdruck war aus seinen Zügen gewichen. Endlich sah er wieder so potenziell überfordert und verwirrt aus, wie ich ihn kannte. Zu meinem Leidwesen umspielte ein Anflug eines Schmunzeln seine Lippen. »Dass du mir gerade eindrücklich bewiesen hast, dass ich dir nicht egal bin? Und dass meine Hoffnung nicht vergebens ist?«
»Hmpf!«
Der Anflug wurde zu einem echten Schmunzeln und Robs Gesichtsausdruck wurde so liebevoll, dass mir das Herz in die Kniekehlen rutschte.
»Darf ich dich küssen?«
Nein! Doch! Keine Ahnung! Mein Hirn konnte sich nicht entscheiden und so beließ ich es bei einem unbestimmten »Hm«.
Rob beugte sich zu mir und hauchte mir federleicht einen Kuss auf die feuchten Lippen. Bevor ich überlegen konnte, ob ich ihn erwidern sollte, löste er sich schon wieder von mir.
»Lass uns das langsam angehen, Jojo«, sagte er und ich wollte schon etwas erwidern, als er nachfügte: »Aber wenn es dir nicht zuwider ist … lass mich dir zeigen, dass es nichts gibt, wovor du Angst haben musst.«
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Hier ist »der Dezember«: https://belletristica.com/de/books/20331-wie-das-feuer-zum-wasser-kam
Und hier gibt es weitere Jojo & Rob Geschichten:
Frieda: https://belletristica.com/de/books/20333-frieda
Firlefanz: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/88195-2020-01-29-firlefanz
Gänseblümchen: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/94944-2020-03-18-ganseblumchen
Ostereier: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/97661-2020-04-08-ostereier
Vergebliche Liebesmüh: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/103807-2020-05-17-vergebliche-liebesmuh