»Ich bin ein Gänseblümchen … ein Gänseblümchen …«
Ich murmelte dieses Mantra vor mich hin.
Rob hob den Kopf aus dem Chaos. »Was ist, Jojo?«
»Ich bin ein Gänseblümchen … ohne Agression … Wut, Ärger, was bringt das schon …«
Mühsam atmete ich durch, während Robs Blick von fragend zu verwirrt und dann zu verständnislos wechselte.
Abrupt wandte ich mich ab. Lief schnurstraks in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Vielleicht würde sich das alles als Halluzination entpuppen, wenn ich in ein paar Minuten mein Zimmer verlassen und in die Küche zurückkehren würde.
»Ich bin ein Gänseblümchen, mir wird ganz warm, ich könnt die ganze Welt und dann mich selbst umarm'n …«
Aus meinem Mantra wurde ein Singsang, während ich meine Jacke und meine Tasche ablegte. Nun ja, kein Wunder, immerhin hatte ich es mir aus einem Song geborgt. Einem verdammt alten. Aber dieses Mantra hatte mir schon so manches mal geholfen, nicht auszuflippen. Gänseblümchen waren friedlich, sie reckten ihre Blüten voller Freude empor, alles war gut, alles war voller Glück, Sonnenschein und Gänseblümchen.
Voller verdammter Gänseblümchen!
Zeit, das Fenster zu öffnen. Ein letzter prüfender Blick in alle Zimmerecken, aber das Katzenvieh musste tatsächlich irgendwo unter Robs Konstruktion oder zumindest außerhalb meines Zimmers sein. Ich riss das Fenster auf.
Kühle Abendluft flutete den Raum. Sauerstoff. Verdammt guter Stoff, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich stemmte die Hände in die Hüften, atmete durch und spielte Blümchen im Wind.
Ein Klopfen an der Tür schreckte mich auf.
»Jojo?«
Robs Stimme klang angenehm gedämpft durch das Holz. Und ich hatte größtes Interesse daran, dass das so blieb. Also sagte ich nichts.
»Jojo?«
Ich stand weiter reglos herum und wartete ab.
»Was ist denn? Jojo?«
Wieder reagierte ich nicht. Nach einer Pause hörte ich, wie Rob sich entfernte. Sehr gut. Hoffentlich verwandelte er diesen Kriegsschauplatz jetzt in unsere Küche zurück. Immerhin war Mittwoch und ich mit dem Kochen dran!
Nach einer guten Viertelstunde hatte ich mich vollständig in ein antiaggressives Blümchen verwandelt. Außerdem hatte ich Durst. Und Hunger!
Also öffnete ich meine Tür und spähte in den Flur. Rumoren in der Küche.
Gänseblümchen!, mahnte ich mich in Gedanken und trat hinaus.
Im Türrahmen zur Küche musste ich feststellen, dass sich die Szenerie tatsächlich geändert hatte.
Sie war noch schlimmer geworden.
»Rob!«, brüllte ich völlig unblumig.
Mein Freund hob so ruckartig den Kopf, dass er mit selbigem an den Tisch knallte, unter dem er kniete.
»Aua!«, rief er überflüssigerweise und rieb sich die schmerzende Stelle, während er sich ans Licht zurückkämpfte.
»Was … was soll das?«, presste ich hervor und ging mein Mantra in Gedanken solange durch, wie Rob brauchte, um meine Frage zu verstehen.
»Ach, das«, setzte er an und kratzte sich verlegen am Kopf. »Ein Parcour!«
»Ein was?!«
»Ein Parcour! Für Frieda!« Rob strahlte mich an, als sei das ein Grund zur Freude.
Gänseblümchen im Sonnenschein ...
»Da gab es doch letztens dieses Video auf Youtube, wo sie gezeigt haben, dass viele Katzen nicht genug beschäftigt werden und dann haben sie gezeigt, was man da so machen kann. Das war richtig toll! Das meiste hab ich selbst gebaut, so, wie die das in dem Video gezeigt haben. In den Spielsachen ist Futter versteckt und die verschiedenen Verbindungen haben unterschiedliche Texturen und Festigkeit, damit es nicht langweilig wird und da oben hab ich …«
»Rob«, unterbrach ich ihn. Er hielt sofort inne und sah mich an. Scheinbar hatte er gelernt, dass meine leise Stimme keineswegs ein Indiz für innere Ruhe war. Im Gegenteil. »Und wo, denkst du, kochen wir heute das Abendessen? Oder morgen? Oder jemals wieder? Und wie kommen wir an das Bier und die Küchenutensilien?«
»Äh …«
Frieda nutzte die entstandene Pause und machte auf sich aufmerksam, indem sie mit einer umfunktionierten leeren Klorolle, die beidseitig verschlossen und offenbar mit Leckerlis gefüllt war, unter dem Tisch hervorstob und quer über den Küchenboden jagte.
Rob glotzte die Katze an.
Ich glotzte sie auch an.
Dann glotzte ich Rob an und er mich.
»Äh, also …«, begann er, »ich dachte, heute könnten wir vielleicht Pizza bestellen?«
»Ach, und wo ist der neue Flyer mit dem Angebot und der Telefonnummer?«
»Äh, der … der muss hier irgendwo …« Rob begann, den Katzentunnel hochzuheben, der quer über den Kühlschrank führte, er wühlte sich über das mit einem Plüschkissen bedeckte Regal und untersuchte den Zettelkram auf dem Tisch, der unter den mannigfaltigsten Bastelutensilien begraben war.
Frieda jagte indes weiter ihr neues Spielzeug. Dann ratschte es vernehmlich und das bekannte Geräusch von zernagtem Trockenfutter mischte sich mit Robs Geraschel und Gekrame.
»Wenn du schon unbedingt unsere Wohnung in einen Katzenspaßpark umfunktionieren musst, wieso fängst du nicht mit deinem eigenen Zimmer an? Oder wenigstens mit dem Flur?«
»Aber hier gibt es viel mehr Platz als im Flur und man kann viel coolere Treppen bauen.«
»Ja, und dann können weder die Katze noch wir hier irgendwas kochen. Warte, wofür war eine Küche gleich noch mal da? Ach ja, kochen!«
»Ach, hier ist er ja!« Rob hielt stolz den Pizzaflyer in die Höhe. Ein Drittel fehlte und der Rest war offenbar als Unterlage für Klebearbeiten benutzt worden.
»Ich geh dann mal online bestellen«, resignierte ich und verzog mich in Richtung meines Zimmers. »Und dir bestelle ich nichts mit, wenn du nicht dafür sorgst, dass Friedaland demnächst woanders eröffnet!«
»Aber jetzt hab ich doch schon …«
»Okay, dann also nur eine Hawaii für mich.«
»Nein, Jojo, warte, ich hab auch Hunger und …«
»… du hasst Ananas. Weiß ich. Ist ja auch meine Pizza.«
Stille aus Richtung Küche. Dann ein erstes Rascheln.
»Ist ja schon gut. Ich bau das ab.«
»Sehr gut. Also, was darf's sein?«
»Hot Dog mit Extra Käse!«
»Und ich dachte, ich hab einen seltsamen Pizza-Geschmack …«
Ich legte die zwei Pizzen und sicherheitshalber noch zwei Colas – wer wusste schon, ab wann wir wieder an den Küchenschrank herankämen – in den Warenkorb und schickte die Bestellung ab.
Dann kehrte ich in die Küche zurück und beobachtete Rob eine Weile dabei, wie er Kleinkram einsammelte und aus Spielzeug einen kleinen Haufen vor dem Balkonfenster baute. Frieda beobachtete ihn auch vom Kühlschrank aus.
»Was war das eigentlich, was du da vorhin vor dich hingemurmelt hast, als du nach Hause gekommen bist?«, fragte Rob und blickte mich an, den Arm voller Krimskrams.
»Das, mein Lieber, war der Grund, warum es heute Abend Pizza und kein Rob-Ragout gibt.«
Damit stieß ich mich vom Türrahmen ab und ging ihm zur Hand.
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Für alle, die auch gern mal ein Gänseblümchen sein wollen … hier ist der Link zu dem Song von Ganz Schön Feist in der Live-Version von 2004 :) Das Lied wurde 1997 zuerst veröffentlicht.
Spotify: https://open.spotify.com/track/5VJeHvGERXzf8A4TV0gZCc?si=qQLcKWiCR4Sfz5RqzT_bQg
Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ROPyOak2_2w
Jojo und Rob haben ihre eigene Geschichte:
https://belletristica.com/de/books/20331-wie-das-feuer-zum-wasser-kam
Und so kam Frieda zu ihnen:
https://belletristica.com/de/books/20333-frieda
Hier gibt es noch andere Jojo und Rob-Geschichten:
Firlefanz: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/88195-2020-01-29-firlefanz
Ostereier: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/97661-2020-04-08-ostereier
Dämmerlicht: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/102794-2020-05-10-dammerlicht
Vergebliche Liebesmüh: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/103807-2020-05-17-vergebliche-liebesmuh