Okamoto blickte von seiner Zeitung auf.
»Das ist alles für heute?«
Haruki nickte und suchte seinen Geldbeutel heraus.
Okamoto klappte seine Lektüre zusammen, legte sie auf eine niedrige Ablage hinter dem Tresen und erhob sich schwerfällig. Er schlurfte die zwei Schritte zur Kasse herüber und betrachtete Harukis Einkäufe. Zwei neue dünne Pinsel mit Rotmarderhaar, verschiedene Tuben Ölfarbe, zwei Rollen grundierte Leinwand und zwei Packungen Holzkeile. Keines der Utensilien trug ein Preisschild. Dennoch tippte Okamoto mit seinen krummen Fingern routiniert jeden einzelnen Preis in seine altmodische Kasse ein. Die schien aus einer Zeit übrig geblieben zu sein, in der das Wort Elektrifizierung nur hinter vorgehaltener Hand im Schein der Gaslampen gemunkelt wurde. Womöglich war die Kasse so alt wie Okamoto selbst – oder noch älter.
»Woran arbeitest du gerade?«
Der alte Mann griff nach einer Tüte und packte Harukis Einkäufe ein. Dabei registrierte Haruki, wie er beiläufig ein Päckchen Kohlestifte in die Tüte gleiten ließ.
»Vielen Dank«, erwiderte Haruki statt einer Antwort.
Okamoto machte nur ein unwirrsches Geräusch und wickelte die Leinwände ein, um sie vor dem leichten Nieselregen draußen zu schützen.
»Also?«
»In letzter Zeit habe ich oft die Stadt im Frühling gemalt.«
»Ah«, machte Okamoto. »Im März hat wohl jeder Lust auf Kirschblüten.«
»Leider muss ihn Ihnen widersprechen, Okamoto-sensei.«
»Hm?«
»Ich male keine Kirschblüten.«
»Hm.«
»Vielmehr habe ich versucht, Straßenzüge am Morgen zu malen, beim Erwachen. Oder spiegelnde Häuserfassaden im Frühlingsregen.«
»Ah. Die Regenstadt.«
»Ja.« Ertappt senkte Haruki den Blick.
»Hm«, machte Okamoto wieder.
Eine Pause entstand.
»Und ich hatte schon befürchtet, jeder würde nur noch Kirschblüten malen in allen möglichen und unmöglichen Variationen. Aber du malst immer noch deine Regenstadt.«
Er klang nicht böse dabei. Vielmehr schwang eine väterliche Note in seiner Stimme mit, die Haruki den Blick heben ließ. Weil er nichts zu erwidern wusste, nickte er nur.
»Für Regen hast du aber diesmal ziemlich viel Gelb gekauft.«
»In letzter Zeit habe ich oft ein neues Motiv gezeichnet«, gab Haruki zu. »Ich habe viel geübt und ich glaube, es wird Zeit, dass ich den Zeichenblock gegen die Leinwand tausche.«
»Ein neues Motiv?«
Ein kleines Lächeln schlich sich auf Harukis Lippen, so unscheinbar, dass er es selbst kaum fühlte. »Ja.«
»So so.«
Okamoto nannte den Preis für Harukis Einkäufe – natürlich hatte er die Kohlestifte nicht berechnet. Haruki legte das Geld auf den Tresen, penibel darauf bedacht, nicht versehentlich Okamotos Hände zu berühren, als der nach den Scheinen griff und sie in seine Kasse einsortierte.
»Und was mag das für ein Motiv sein?«, fragte er, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
»Der Sommer.«
»Schon? Ist nicht gerade erst Frühling geworden?«
»Nun ja, es ist eher ein Sommer im übertragenen Sinne«, gab Haruki zurück. »Jemand wie Sommer. Aber unter der leuchtenden, warmen Schale verbirgt sich ein Meer, das unendlich tief und kalt zu sein scheint. Es ist fast unsichtbar – darüber liegen blendend helle Sonnenstrahlen und Wärme. Das möchte ich malen.«
»Mmh«, brummte Okamoto langgezogen und schien darüber nachzudenken. »Ein Motiv, das gemalt werden möchte.«
»Okamoto-sensei?«
Der Alte blickte Haruki fest an. »Du liebst die Regenstadt in all ihren Facetten und wann immer ich dich frage, was du malst, ist immer die Regenstadt darunter. Es ist ein Motiv, das du malen möchtest. Das ist legitim und ich bin mir sicher, dass du das gut machst und dass du Freude daran hast. Aber das, was wirklich wichtig ist, das, was für uns als Künstler wirklich zählt, das sind Motive, die gemalt werden möchten. Motive, die wir malen müssen, weil wir gar nicht anders können. Motive wie dein Sommer.«
»Motive, die gemalt werden möchten«, wiederholte Haruki murmelnd und dachte nun seinerseits über Okamotos Worte nach.
»Das sind die besten, aber auch die schlimmsten Motive.«
»Warum das denn?«
Ein Schmunzeln schlich sich in Okamotos Gesicht – wehmütig, aber auch ein wenig schelmenhaft. »Weil sie uns ein Stück unserer Seele kosten, wenn wir sie malen. Ohne geht es nicht. Aber das Ergebnis ist es wert.«
»Haben Sie auch solche Motive gemalt, Okamoto-sensei?«
»Ich wäre doch ein recht trauriger Maler, wenn nicht!«, gab der Alte zurück, ließ sich wieder auf seinen Schemel fallen und griff nach seiner Zeitung. »Aber die meisten sind nur hier drin.« Es raschelte leise, als er sich mit der Zeitung an den Kopf tippte.
»Oh, das tut mir leid …«
»Mumpitz! Ein paar habe ich gemalt, bevor diese Hand nur noch zum Tütenpacken taugte. Keine Ahnung, wo die hingekommen sind, ich hab sie seit Jahrzehnten nicht gesehen. Aber die schönsten hab ich immer bei mir.«
Er lächelte versonnen, schlug seine Zeitung auf und vertiefte sich wieder in die Lektüre.
Haruki bedankte sich erneut leise, nahm seine Einkäufe und wandte sich zum Gehen, den Kopf voller Gedanken. Das aufgeregte Klingeln des Glöckchens über der Ladentür entließ ihn wieder in die Außenwelt, die mit ihren Hochhäusern und hektischen Straßen so gar nicht zu dem alten Künstlerladen und seinem Besitzer passen wollte.
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Haruki und Okamoto sind Teil meiner Geschichte »Minocchis Frühling«: https://belletristica.com/de/books/20347-minocchis-fruhling