Es war einmal vor langer, langer Zeit, da gab es in einem Land weit, weit entfernt von hier ein Königreich, das Ginkoku genannt wurde. Das Silberreich, wie es übersetzt heißt, hatte seinen Namen von seinem ungewöhnlichen Aussehen. Denn alle Gebäude, alle Straßen, alle Pflanzen und Tiere, ja selbst alle Bewohner dieses Reiches waren silber und durchscheinend wie das Mondlicht. Auch verhielt es sich so, dass Ginkoku äußerst schwer zu finden war. Nur selten hatte es überhaupt jemand erblickt und oft genug nur für eine Sinnestäuschung, ein Trugbild gehalten. Denn das Silberreich erschien nur in klaren Vollmondnächten in einem namenlosen Tal inmitten von Hügeln, deren Hänge so stark bewaldet waren, dass kaum ein Mensch es je besucht hatte. Und obgleich versprengte Dörfer auf den rückwärtigen Seiten der Hügel lagen, so gab es doch kaum Veranlassung für die Menschen, eben jenes Tal zu durchqueren, schon gar nicht in der Nacht, die von wilden Tieren und finsteren Geistern bevölkert war. Vielleicht wegen des schwierigen Untergrundes, vielleicht wegen einer Ahnung, dass hier überirdische Mächte am Werk waren, führten die Wege zwischen den Dörfern stehts an den Hügelkuppen entlang oder durch die angrenzenden Täler. Das Tal mit dem Silberreich lag schlafend da, des Nachts und auch am Tage.
Und die, die im strahlenden Mondlicht die durchscheinend-silbernen Mauern gesehen, die zwischen den schwarzen Baumwipfeln die leuchtenden Türme erahnt, die das seltsam stille Wogen und Wabern des Lebens in den Mauern des Silberreichs gespürt hatten, die glaubten ihren Augen nicht oder tranken noch in der Nacht so viel Wein, dass sie am nächsten Morgen jede Erinnerung an das geisterhafte Treiben ertränkt hatten.
Aber da es doch den einen oder anderen gab, der von diesem Königreich zu berichten wusste, entspannen sich über die Jahrhunderte die wildesten Legenden. Verfluchte Geister sollten in diesem Reich hausen, angeblich wäre es ein Eingang zur Anderswelt, wie es sie oft gab in den Bergen oder an Flussläufen. Böse Mächte meinten manche am Werke zu sehen, während andere von der unerreichten Schönheit des Mondreiches berichteten. Manch einer berichtete von bleichen Gestalten, die in langen Gewändern durch die Wälder streiften, lautlos und leuchtend wie Geister. Doch niemand hatte sich jemals getraut, einen von ihnen anzusprechen, niemand hatte sich jemals getraut, die silbernen Straßen zu betreten oder auch nur eine der schimmernden Mauern zu berühren. Es war, als läge ein Bannkreis um das Reich und seine Bewohner und keiner wagte, ihn zu durchbrechen.
Und so kam es, dass die Bewohner von Ginkoku für hundert mal hundert Jahre kein einziges Mal mit einem Menschen gesprochen hatten. Obgleich sie die Menschen von ihren Türmen, aus ihren Fenstern und von den Straßen aus beobachtet hatten, wie sie mal fern, mal nah um ihre Heimstatt herumschlichen, obschon ihnen der eine oder andere auf ihren Spaziergängen im Tal und auf den Hängen begegnet war, so gab es doch keinen wirklichen Kontakt. Die Silberreich-Bewohner begnügten sich damit und genossen den Frieden, den der Abstand mit sich brachte. Nur dann und wann gab es Bewohner, die neugierig auf die Menschen waren und sich danach sehnten, sie und ihre Kultur kennenzulernen.
Tsukimi und ihre Zwillingsschwester Sonata waren solche zwei. Doch als Töchter des Königs von Ginkoku mussten sie sich strenger als irgendjemand sonst an die ungeschriebenen Regeln halten, die seit Jarhunderten in ihrem Volk Bestand hatten. Doch zu gern hätten die beiden Mondlichtprinzessinnen einmal mit einem Menschen gesprochen, hätten zu gern seine glanzlose Haut berührt, seine Geschichten gehört und seine Welt erforscht. In mancher Nacht, wenn die Welt des Silberreichs im Mondlicht mit der Welt der Menschen verschmolz, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Hatten sich zwischen den mächtigen Stämmen der Bäume Pfade ausgedacht und waren ihnen gefolgt, in der Hoffnung, ihnen möge jemand begegnen, der ebenfalls unsichtbare Pfade beschritt. Manchmal hatten sie auf den Hügeln jemanden erspäht, einmal sogar ganz nah an der Mauer, die ihr Reich schützend umgab und die Grenze ihrer Welten markierte. Und doch hatten die Menschen immer Reißaus genommen, wenn sie sie bemerkt hatten. Wie Mäuse, die aus dem Licht flohen, das plötzlich auf sie fiel. In ihrer Ängstlichkeit waren sie beinahe possierlich. Tsukimi und Sonata hatten nie verstanden, warum ihnen ihr Vater immer wieder aufs Neue einschärfte, die Menschen unbehelligt fliehen zu lassen. Zu gern wären sie ihnen nachgelaufen und hätten mit ihnen gesprochen, hätten sie eingeladen in ihr Reich, hätten sie mitgenommen und ihnen ihre Welt gezeigt.
Und so kam es, wie es kommen musste. In einer warmen Vollmondnacht im August trafen Tsukimi und Sonata auf zwei junge Männer, die durchs Unterholz schlichen und den silberglänzenden Mauern ihres Zuhauses immer näher kamen. Die Zwillingsschwestern gingen ihnen entgegen und auch als die Männer Reißaus nahmen, blieben sie nicht stumm zurück, wie ihr Vater es ihnen eingebläut hatte. Sie fragten die Männer, wie sie lebten, berührten vorsichtig ihre Wangen, liefen an ihrer Seite den Hang hinauf. Weiß leuchteten die Gesichter der Männer im Mondlicht, mit fliegenden Füßen suchten sie ihr Heil in der Flucht, schreiend und mit furchtbaren Flüchen auf den Lippen. In der nächsten Nacht leuchtete neben den silbrigen Mauern von Ginkoku auch ein Band aus Fackeln in der Dunkelheit.