Jedes Mal, wenn er die drei Bonsais betrachtete, stiegen Erinnerungen in ihm auf. Drei Schwarzkiefern. Die Älteste war 35 Jahre alt und hatte ihn einen vierstelligen Betrag gekostet. Auch die anderen zwei Miniatur-Bäume hatten zusammen mit dem notwendigen Zubehör ein Loch in seine Haushaltskasse gefressen. Aber das kümmerte ihn nicht. Wenn das bedeutete, dass er eine Weile von Wasser und Toast leben musste, war das schon in Ordnung. Nichts war ihm so teuer wie die Erinnerungen, die diese Bäume in ihm weckten.
Wenn er die Augen schloss, konnte er das Meeresrauschen hören. Er schmeckte den salzigen Wind auf seiner Zunge, spürte die schwüle Augusthitze auf seiner Haut, roch den Schweiß, der ihm nach dem anstrengenden Aufstieg über den Körper strömte. Wenn er dann die Augen wieder öffnete, sah er nicht die drei Bonsais, den kleinsten zur Linken, den größten zur rechten. Er sah die Kieferninseln von Matsushima. Dicht bewachsen mit knotigen Schwarzkiefern, Jahrzehnte alt, Jahrhunderte vielleicht. Dazwischen schossen junge, filigrane Stämme empor und an den steil abfallenden Rändern hielten sich windgebeugte, manchmal herabwachsende Kiefern, von der Natur in unperfekter Perfektion geformt.
Der Anblick von Kanejima, die durch Höhlen und Durchbrüche in ihrem Sandstein-Sockel aussah, als hätten sich drei kleine Inseln dicht aneinander geschmiegt, hatte ihn besonders gefangen genommen. Ihrem Vorbild war das Arrangement aus Bonsais nachempfunden. Ihr Bild war es, das sich ihm am stärksten eingeprägt hatte.
Es war ihm beinahe unbegreiflich, dass er von den kiefernbewachsenen Inseln in der Bucht von Matsushima vor seiner Geschäftsreise nach Sendai nie etwas gehört hatte. Dabei zählte die Bucht zu den drei schönsten Landschaften Japans. Sicher, eine andere dieser Landschaften – nämlich das rote Torii, das vor der Insel Miyajima in der Nähe von Hiroshima im Wasser stand – hatte selbst er gekannt. Verschiedene Fotos davon waren fast so berühmt wie Bilder vom Berg Fuji. Von der Himmelsbrücke von Amanohashidate in der Region Kyoto hatte er allerdings auch noch nie gehört. Sein japanischer Kollege, der ihm von den Landschaften erzählt hatte, hatte es ihm nicht übel genommen und ihm bereitwillig mehr über sie erklärt. Und dann hatte er vorgeschlagen, nach dem Geschäftsessen am vorletzten Abend mit ihm zur Bucht von Matsushima zu fahren, dort eine Unterkunft zu beziehen und am nächsten Morgen die Kieferninseln zu besuchen. Auch wenn er nur ungern die angenehm klimatisierten Räume ihres japanischen Geschäftspartners in Sendai gegen die sonnenüberfluteten Hügel in dem kleinen Küstenort eingetauscht hatte, so hatte er doch zugestimmt. Und das war ein großes Glück. Seitdem war dieser Ausflug eine seiner liebsten Erinnerungen. Und eine, die ihm selbst jetzt, vierzig Jahre später, noch lebhaft vor Augen stand.
Neben den drei beigen Keramikschalen mit den Schwarzkiefer-Bonsais hatte er ein kleines unscheinbares Büchlein mit schwarzem Ledereinband aufgestellt. Sein einziges Souvenir von der einzigen Geschäftsreise nach Japan, die er je gemacht hatte. Ein Reisetagebuch von Bashō, einem der berühmtesten – wenn nicht sogar der berühmteste – Dichter Japans und allgegenwärtig in der Region mit seinen poetischen Worten. Aufgeschlagen war das Buch an der einzigen Stelle, die er auswendig konnte, obwohl er kaum Japanisch sprach. Mit Bleistift war das Haiku eingekreist, neben den japanischen Kanji- und Hiragana-Zeichen hatte er die Übersetzung notiert, die er ebenso im Kopf hatte wie das Haiku selbst.
「島々や千々に砕きて夏の海」
Wellenumspülte Inselwelt –
verteilt zu Tausenden
in sommerlicher Meeresweite
Es gab nichts, das seine Gedanken besser zusammenfasste, als er die versprengten Inseln im tiefblauen, im Sonnenlicht glitzernden Wasser betrachtet hatte.
Etwas Schöneres hatte er seitdem nie erblickt. Und so schwelgte er immer dann, wenn ihm das Leben grausam und hässlich und einsam und kalt vorkam, in den Erinnerungen an Matsushima. An Möwenschreien, Meeresrauschen, Sonnenglitzern, Salzgeruch und drückende Wärme, an dunkelgrüne Kronen auf gelbem Sandstein und beigegrauem Tuff, an die Perfektion im Unperfekten, die Schönheit im Unvollkommenen und die Vollkommenheit des Augenblicks.
Von dem japanischen Kollegen hatte er nach seiner Rückkehr noch ein paar Mal gehört, dann hatte er das Unternehmen gewechselt. Er wusste nicht mehr, ob er sich damals richtig bedankt oder nur schweigend und mit vom Wind tränenden Augen auf die Bucht geschaut hatte und sein Kollege ihn einfach ohne Worte verstanden hatte. Manchmal dachte er an ihn zurück und hoffte, dass es ihm gut ging. Dass er auch etwas besaß, das ihn in schweren Stunden mit Glück erfüllte.
Schweigend betrachtete er die drei kunstvoll geformten Schwarzkiefern vor sich. Betrachtete die aufgeschlagene Seite des Büchleins. Alles war friedlich. Alles war still.
Und noch einmal schloss er die Augen.
Ah … das Meeresrauschen.
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Die Übersetzung des Gedichtes stammt von Robert F. Wittkamp, gefunden auf folgender Website: https://www.haiku-heute.de/archiv/wittkamp-die-anti-landschaft-bei-basho/