Morgentau glitzerte auf den Veilchen in der Baumscheibe vor dem alten Buchladen. Letzte Nebelfetzen hingen in der Straße wie vergessene Gespenster. Obwohl die Fassaden der Häuser farblos und rissig waren, obwohl sich aus den Ritzen des Bürgersteiges dürre, ebenso farblose Stängel von Unkraut emporreckten und obwohl der weißgraue Nebel sich perfekt einzufügen schien in das trostlose Straßenbild, gab es für Tom keinen schöneren Ort als diesen. Denn in dieser Straße befand sich sein größter Schatz.
Die Luft war kühl und feucht und roch frisch und unverbraucht. Zaghaft krochen erste Sonnenstrahlen über die Hausdächer und tauchten sie in goldenes Licht. Tom warf noch einen Blick auf die friedliche Szenerie der erwachenden Stadt, dann steckte er den Schlüssel ins Schloss seines Ladens und drückte die Tür auf.
Drinnen empfing ihn warme Luft, in der der unverkennbare Geruch von Büchern mitschwang. Alte und neue, verstaubte und solche, die ganz frisch ins Regal gestellt wurden. Der Geruch seines Zuhauses, seiner Zuflucht, seines verwunschenen Schlosses, das er sich selbst inmitten der lauten, modernen Jetzt-Zeit geschaffen hatte.
Die Wände des Ladens bedeckten deckenhohe dunkle Holzregale und auf den zwanzig Metern dazwischen standen noch einmal vier doppelseitige Regale, die Tom um eine Armlänge überragten. Und jedes Regal war vollgestellt mit Büchern. Akribisch geordnet nach Genres, nach Autoren und Titeln reihte sich ein Buchrücken an den nächsten. Allesamt gebundene Ausgaben – Tom lehnte Taschenbücher strikt ab und hatte noch nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, so etwas Profanes in seinen Laden aufzunehmen.
»Wer Taschenbücher kaufen will, findet sie in jeder viertklassigen Bahnhofsbuchhandlung. Hier gibt es nur richtige Bücher«, pflegte er immer zu sagen.
Dank seiner Liebe zur englischen Romantik gab es ein ganzes Regal nur für die Werke von Keats, Byron, Shelley, Blake und anderen Größen ihrer Zeit. Und auch wenn er nicht so ganz dort hineingehören mochte, hatte Tom im selben Regal ein ganzes Fach dem ebenfalls von ihm verehrten Oscar Wilde gewidmet. Ganz nah bei Keats, auch wenn dies der alphabetischen Ordnung Abbruch tat. Aber diesen beiden verdankte er nicht nur seine Leidenschaft für englische Literatur, sondern auch den Namen seines Ladens und nicht zuletzt die Veilchen davor.
Das »Writ in Water« mit seinen wunderschönen gebundenen Büchern im Schaufenster und den violetten Veilchen davor bildete eine bunte Oase im Grau-in-Grau der Straße und es war unmöglich, daran vorbeizugehen und keinen genaueren Blick durch die stets geputzte Scheibe zu werfen.
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Leider bin ich nicht fertig geworden in der Zeit – wer weiß, vielleicht kann ich euch Tom ja bei einer der nächsten 60 Minuten Geschichten besser vorstellen ;)