Am Ende des Sommers kamen die Stürme.
Regen peitschte gegen die Holzläden, der Wind rüttelte an ihnen und pfiff jaulend durch die Ritzen. Ab und an rollte ein Donnern über das Haus hinweg. Draußen in der Nacht tobte der Taifun, rauschte durch die Kronen der Bäume im Garten und verwandelte vermutlich die Straßen in reißende Flüsse.
Shuichi saß mit dem Laptop in seinem Wohnzimmer und versuchte zu schreiben. Auf dem niedrigen Tisch standen eine Kanne mit Gerstentee, ein halbleerer Becher und die Überreste eines aufgewärmten Gerichts aus dem Konbini. Shuichi hatte nichts davon seit Stunden angerührt.
Seit Wochen ging es nicht so recht voran mit seinem Roman und die näher rückende Deadline setzte ihn zunehmend unter Druck. Die Hälfte hatte er ungefähr zusammen, doch nun hatte er sich in eine Sackgasse geschrieben, aus der es kein Entrinnen zu geben schien. Er quälte sich einige Zeilen ab, markierte sie, löschte sie wieder, schrieb erneut einen Absatz. Sein Kopf war leer. Seine Augen lasen zwar, was er aufs virtuelle Papier brachte, doch die Informationen daraus versickerten irgendwo zwischen Iris und Cortex.
Müde strich sich Shuichi über die schmerzenden Augen und fuhr sich durchs Haar.
Es hatte keinen Zweck. Er steckte fest.
Umständlich erhob er sich aus dem Schneidersitz, tappte ins Bad und griff sich die Augentropfen. Gerade als er ein wenig der Flüssigkeit in sein linkes Auge geträufelt hatte, ertönte ein lautes Krachen aus dem Wohnzimmer.
Shuichi ließ das Fläschchen fallen und war schon reflexartig in den Flur gelaufen, bevor er überhaupt realisierte, was er tat. Das Heulen des Windes und das Rauschen des Regens waren nach wie vor kräftig, aber weder das eine noch das andere war lauter geworden. Ein Blick ins Wohnzimmer bestätigte ihm, dass keiner der Holzläden zu Bruch gegangen war. Scheinbar war etwas von außen mit großer Wucht dagegen geknallt. Ein Ast vielleicht. Oder eine Regentonne.
Dennoch stand Shuichi noch einen Moment mit klopfendem Herzen in seinem Wohnzimmer und starrte auf die großen Schiebetüren, die zu seiner Veranda führten. Und gerade als er sich wieder umwenden und ins Bad zurückkehren wollte, meinte er zwischen all dem Getöse des Sturms etwas zu hören. Etwas, das in den Naturgewalten unmöglich zu hören sein müsste – ein Stöhnen. Schmerzerfüllt, schwach.
War der Sturm womöglich so stark, dass er einen Menschen …?
Ein Schauder lief über Shuichis Rücken. Schon war er bei den Holzläden und entriegelte einen von ihnen. Schob ihn ein Stück beiseite.
Noch bevor er hinausspähen konnte, schlugen ihm heftiger Regen und Wind entgegen. Das kleine Vordach über seiner schmalen Veranda bot den fast waagerecht fallenden Tropfen keine Gegenwehr. Shuichi kniff die Augenlider zusammen und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen.
Und dann erkannte er tatsächlich etwas. Erschrocken prallte er zurück.
Auf seiner Veranda – nur ein paar Schritte entfernt – lag jemand. Oder etwas? Shuichi war sich nicht sicher. Die Gestalt war zusammengekrümmt und das Gesicht nicht erkennbar. Doch waren das an ihrem Rücken … Federn? War das nicht eine Hand, mit der sich die Gestalt kraftlos vom Holzboden hochzustemmen versuchte?
Shuichis Magen zog sich zu einem festen Klumpen zusammen, als er einen Schritt nach draußen machte. Sofort saugte sich seine Socke mit Wasser voll, der Wind peitschte ihm Regentropfen wie Gewehrkugeln ins Gesicht und auf die nackten Arme.
»Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er gegen den Sturm an. Die Gestalt reagierte nicht darauf. Sackte, wenn möglich, nur noch mehr in sich zusammen. Wieder drang ein leises schmerzverzerrtes Stöhnen aus ihrer Richtung.
Shuichi erreichte die Gestalt in dem Moment, als ein Blitz über den Himmel zuckte und direkt ein ohrenbetäubendes Krachen hinterher schickte. Der kurze Moment des gleißenden Lichtes reichte aus, um zu enthüllen, dass dieser Jemand, der auf Shuichis Veranda lag, keinesfalls menschlich sein konnte. Sein Oberkörper war mit schwarzglänzenden Federn bedeckt, Arme und Beine waren ebenfalls mit Federn gespickt, doch darunter schimmerte helle Haut hervor. Das Gesicht des Fremden war halb das eines Raben, halb das eines Menschen, eine seltsame fließende Fusion, als wäre die Zeit mitten in einer Verwandlung stehen geblieben. Noch einmal schlich sich ein Stöhnen über die Lippen des Fremden. Er presste, wie Shuichi erst jetzt erkannte, die Hand fest gegen seinen Bauch. Schließlich glitten die Gesichtszüge vollends in die eines Raben über, ein schwarzer Schnabel formte sich, wo einst Mund und Nase waren und schwarzes Gefieder wucherte über die Wangen und das Haar. Das Gefieder breitete sich aus, bedeckte Arme und Hände, formte sich zu Flügeln. Aus den Füßen wurden Krallen und nur Sekunden später lag ein riesiger Rabe reglos auf den Holzbohlen.
Der nächste Blitz zuckte herab, der Donner grollte ohrenbetäubend und Shuichi suchte sein Heil in der Flucht. Schlitternd und stolpernd rannte er zur geöffneten Tür zurück, schon war er halb hindurch, mit nassen Füßen und tropfenden Kleidern auf den Tatamimatten, schon ruckte er an dem Holzladen und zerrte … als sein Blick noch einmal auf die finstere Gestalt fiel. Inmitten des Herbststurmes war sie ganz still geworden. Still und bewegungslos, nur der Wind spielte noch mit den glänzenden Federn.
Shuichi hielt inne. Tropfte. Starrte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Schließlich trat er erneut nach draußen. Langsam. Bedächtig. Bis er wieder vor dem Wesen stand. Was immer es war, es war verletzt. Womöglich schwer verletzt. Es würde sterben, heute Nacht, wenn Shuichi es hier draußen sich selbst überließe.
Diese Schuld wog schwerer als seine Angst. Vorsichtig berührte er den Raben am Rücken. Er war nass und kalt. Shuichi legte die Hand an sein Gefieder, ganz flach und ruhig. Der Körper hob und senkte sich kaum merklich.
Er musste etwas tun.
Behutsam nahm er den Vogel hoch. Er war unerwartet schwer. Shuichi hatte Mühe, ihn zur Schiebetür zu tragen und dann hinein ins Wohnzimmer, durch den Flur, ins Bad. Der Wind heulte und jaulte hinter jedem seiner Schritte her, schickte immer neue Wogen von Regen durch die offen stehende Tür. Shuichi legte den Raben in seiner Wanne ab, lief eilig zurück ins Wohnzimmer und verschloss die Holzläden sorgsam. Das Heulen wurde leiser. Dann ging er ins Bad zurück und besah den Vogel von allen Seiten. An seiner Brust klaffte eine Wunde, doch sie schien nicht tief zu sein. Der linke Flügel allerdings hing schlaff herunter, ließ sich nicht anlegen. Vielleicht war er gebrochen, vielleicht auch nur verstaucht. Womöglich hatte sich der Vogel verletzt, als er gegen das Haus geprallt war.
Doch was tun?
Wen fragte man in solch einer Situation? Einen Tierarzt? Oder einen der Priester im Schrein auf dem Hügel?
Shuichi stand noch einen Moment ratlos herum. Dann wusch er vorsichtig die Wunde an der Brust des Vogels, trocknete ihn ab und verband die gefiederte Brust so gut er konnte. Auch den Flügel versuchte er zu fixieren und verband ihn mit dem letzten Stück Mullbinde, das er besaß.
Der Rabe atmete flach und regelmäßig. Shuichi betrachtete ihn eine Weile prüfend. Der Verband blieb weiß, vielleicht hatte die Wunde bereits aufgehört zu bluten. Der Rabe war verletzt und geschwächt, doch glücklicherweise schien er nicht in Lebensgefahr zu schweben. Und dennoch … als Laie würde er die Situation vielleicht falsch einschätzen. Was, wenn die Verletzungen doch schwerer waren, als Shuichi erkennen konnte?
Shuichi beschloss, dass er den Vogel über Nacht bei sich behalten und gleich am nächsten Morgen in der Tierklinik anrufen wollte. Oder beim Schrein? Vielleicht würde er zu beiden gehen, sobald der Sturm sich gelegt hatte.
Er rollte den Gästefuton im Wohnzimmer aus und legte seinen eigenen daneben. Dann bettete er den Vogel vorsichtig auf den Gästefuton und betrachtete ihn. Beobachtete das regelmäßige Auf und Ab der gefiederten Brust. Das seidige Glänzen der schwarzen Federn. Die Bandagen, die in heftigem Kontrast dazu standen.
Schließlich schlich ein Gedanke in seinen Kopf. Eine Idee.
Shuichi setzte sich wieder an den Tisch, drehte den Laptop so, dass er den Raben im Augenwinkel sehen konnte, und begann zu tippen. Eine völlig andere Richtung, eine ganz andere Geschichte. Aber es fühlte sich richtig an. Genau richtig. Also schrieb er und schrieb.
Stunden später – der Sturm hatte längst nachgelassen und war zu einem regenschweren Rauschen und Tröpfeln zusammengeschmolzen – sank Shuichi müde auf die verschränkten Arme und schloss die schmerzenden Augen. Er würde ausruhen, nur kurz. Diese Geschichte … er musste sie weiterschreiben.
Als er erwachte, lag eine Decke über seinen Schultern. Und die Finger einer fremden Hand verschränkten sich mit seinen.
Shuichi schreckte auf und prallte zurück.
Ihm gegenüber saß ein junger Mann mit rabenschwarzem Haar, tiefbraunen Augen und einem Verband um die nackte Brust. Sein anderer Arm steckte in einer Schlinge.
»Guten Morgen«, sagte der Mann und lächelte ihn an. »Danke, dass du mich gerettet hast.«