Schon auf dem Bürgersteig umfingen mich die Töne des Pianos. Ein Blick nach oben verriet mir, dass er mal wieder mit offenem Fenster spielte. Das Stück kannte ich nicht. Vielleicht komponierte er wieder.
Die sanften Töne untermalten jeden meiner Schritte, als wollten sie mich nach Hause geleiten. Ich steckte so leise wie möglich den Schlüssel ins Schloss, schlüpfte durch die Tür und schloss sie ebenso leise wieder.
Schuhe, Mantel und Tasche ließ ich in der Flur und schlich strumpfsockig in den ersten Stock. Wie kleine Schmetterlinge flatterten die Klaviertöne aus dem Pianozimmer, dessen Tür nur angelehnt war. Darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, schob ich das Türblatt beiseite und lehnte ich mich in den Rahmen.
Da saß er, in dem cremefarbenen dünnen Cashmere-Pullover, den ich ihm im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und einer bequemen schwarzen Stoffhose, die Augen geschlossen, völlig versunken in sein Spiel. Das Fenster war breit geöffnet und ganz am Rand, hinter den Dächern der anderen Häuser, konnte ich das Licht der letzten Sonnenstrahlen erahnen. Nicht mehr lang und die Kühle des Abends würde ihre Finger nach uns ausstrecken. Doch noch war Zeit.
Reglos verharrte ich im Türrahmen, lauschte den Melodien, den federleichten Läufen, den melancholischen Tiefen, den tänzelnden Höhen, die aus seinen Gedanken direkt in seine Finger flossen und den Raum fluteten. Mich überfluteten. Ich wollte die Augen schließen, doch ich hielt sie offen. Um nichts in der Welt wollte ich diesen Anblick versäumen.
Ich liebte es, von der Arbeit nach Hause zu kommen und von seinem Spiel begrüßt zu werden. Und ich wusste, dass er es wusste, auch wenn ich es nie ausgesprochen hatte. In letzter Zeit geschah es häufiger, dass er das Fenster zum Klavierspielen öffnete und dass er zufällig mit dem Üben begann, kurz bevor ich mein Büro verließ. Sicher dachte er, ich hätte es nicht gemerkt. Doch dazu hätte es nicht einmal unserer Nachbarin bedurft, die mir manchmal morgens begegnete und von seinem Klavierspiel am Vorabend vorschwärmte.
Als ich mein Gewicht verlagerte, knarzte eine Diele unter meinem Fuß. Unhörbar fast, ein Geräusch, das sich mitten unter eine große Terz schob. Doch das reichte.
Er unterbrach sein Spiel.
»Richard. Bist du das?«
Ich stieß mich ab, ging zu ihm herüber.
»Ja.«
Kaum bei ihm angekommen, blieb ich hinter ihm stehen, berührte ihn mit den Fingerspitzen behutsam an der Schulter und umarmte ihn dann sanft.
»Spiel weiter, Henri«, flüsterte ich, das Kinn auf seiner Schulter abgestützt.
»Setz dich doch zu mir.«
Ich tat, wie mir geheißen, und Henri rutschte ein Stück zur Seite, sodass ich auch auf dem Klavierhocker Platz fand.
»Aber verlang nicht, dass ich etwas mit dir zusammen spiele«, wandte ich ein. »Du bist der Musikalische von uns beiden.«
Henri wandte ein wenig den Kopf und lächelte verschmitzt. »Wie schade.«
Damit legte er die Finger wieder auf die Tasten – die richtigen – und setzte sein Spiel fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
Nach einer Weile lehnte ich mich an ihn, ließ den Kopf erneut auf seine Schulter sinken und schloss die Augen. Ich spürte, wie er kurz den Kopf neigte, hörte sein Lächeln und hätte ewig so hier sitzen und ihm lauschen können.
Die dunklen, ruhigen Töne mit den vereinzelten hellen Sprenkeln lullten mich ein. Nur zu gerne ließ ich mich von ihnen gefangen nehmen. Das hier war mein Refugium. Unser Refugium. Alle meine weltlichen Sorgen, all das, was mich auf meiner Arbeit beschäftigte, all die Dinge, mit denen ich konfrontiert war, sobald ich einen Schritt aus dieser Wohnung setzte – nichts davon hatte hier Zutritt. Dieser Raum, diese Momente gehörten nur uns. Nichts anderes zählte.
Ein kalter Luftzug weckte mich aus meiner Trance. Auch Henris Finger hielten inne.
»Ist es denn schon dunkel?«
»Mh«, machte ich langgezogen und strich mir über die Augen. »Als ich nach Hause kam, ging schon die Sonne unter.«
Ich spürte, wie Henri erneut den Kopf wandte, auch wenn wir beide wussten, dass es nichts als eine sinnlose Gewohnheit war.
»Hast du Hunger?«
»Ein wenig.«
Ich streckte mich, erhob mich und schloss das Fenster, vor dem die Nacht ihre Schattenfinger vom Osten her ausstreckte.
»Dann lass uns Abendessen machen. Hilfst du mir beim Gemüsewaschen?«
Auch Henri erhob sich, schloss behutsam die Tastenklappe des Pianos.
»Ich bin der beste Gemüsewäscher der ganzen Stadt! Auf meine Hilfe willst du doch wohl nicht verzichten?«
»Niemals!«
Er streckte die Hände in meine Richtung und ich ergriff seine Rechte. Eigentlich brauchte er meine Hilfe beim Laufen nicht – er kannte sich in der Wohnung so gut aus, dass er seit Monaten nicht ein einziges Mal mit einem Türrahmen oder einem Gegenstand kollidiert war, was ich nicht von mir behaupten konnte –, doch wir beide schätzten die Nähe und das Vertrauen, die diese Geste bedeuteten.
»Was hast du denn da heut gespielt?«, fragte ich, während ich ihn langsam in Richtung Küche dirigierte. »Eine neue Komposition?«
»Wer weiß?« Damit ließ er mich stehen und holte Paprika, Zucchini und Auberginen aus dem Kühlschrank. »Ich habe noch keine Noten aufgeschrieben. Aber ich glaube, ich nenne das Stück ›Mein Leuchten in der Dunkelheit‹ – was sagst du?«
»Ein bisschen kitschig. Aber es passt zu dir.«
»Zu uns«, verbesserte mich Henri und drehte den Wasserhahn auf.