Dieser Teil knüpft an die 60-Minuten-Geschichte »Neuanfang« an: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/84651-2020-01-01-neuanfang
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»Unmöglich!«
Cesare zuckte zurück.
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Es ist beinahe unterhaltsam, wie die Menschen selbst die Dinge für unmöglich halten, die sich gerade vor ihren eigenen Augen abspielen.«
Er trat einen Schritt näher und ließ sich vor Cesare in die Hocke gleiten. Ein seltsamer Geruch ging von ihm aus, würzig und herb. Wie feuchte Erde. Wie das Versprechen auf eine Nacht voller Euphorie und Ekstase.
Cesare presste sich gegen die Bank, deren Holzsplitter sich durch sein Hemd drückten.
»Hab keine Angst.« Die Stimme des Fremden klang sanft. Lockend. »Hab keine Angst, Cesare.« Wie ein Mantra.
Die Panik pulsierte noch immer durch Cesares Adern, doch ihr Pochen wurde dumpf.
»Beruhige dich.«
Obwohl alles in Cesare danach schrie, dass er sich keinesfalls beruhigen würde, dass es unmöglich war, nach dieser Eröffnung jemals wieder einen klaren Gedanken zu fassen, fraß sich die Angst schon bald nicht mehr durch seine Eingeweide wie ein wildes, hungriges Tier.
»So ist es gut. Hab keine Angst.«
Der Fremde streckte langsam eine Hand nach ihm aus, berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Der betörende Geruch wurde intensiver. Cesare wollte sich noch weiter an die morsche Holzbank in seinem Rücken drängen. Doch stattdessen fühlte er, wie seine Muskeln weich wurden, wie seine Schultern nach unten sanken und seine Arme, auf die er sich gestützt hatte, sein Gewicht nicht mehr tragen wollten.
Der Fremde fing ihn auf und bevor Cesare reagieren konnte, zog er ihn in eine Umarmung. Kräftig und beschützend.
»Verzeih, dass ich diese List anwenden musste. Verzeih, dass ich dir nicht die Wahl ließ.«
Das dunkle Vibrato des Fremden war so nah, wiegte Cesare in Sicherheit, ließ ihn vergessen, dass an dieser Situation nichts Normales war. Dass er Minuten zuvor mutterseelenallein in einer leeren Kapelle erwacht war, dass er keinen Atem, keinen Herzschlag, keinen Puls besaß. Dass er nur Stunden zuvor … zuvor … was hatte er getan, bevor er in diesem gottverlassenen Gotteshaus erwacht war? Wie war er hierher gekommen?
Der Fremde löste sich von Cesare und blickte ihm ernst in die Augen.
»Du erinnerst dich nicht, nicht wahr? Was passiert ist?« Cesare schüttelte den Kopf und ein wehmütiges Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenübers. »So ist es immer … Ich erinnere mich auch nicht an meine Erweckung. Oder warum ich erweckt wurde. Seltsam, oder? Ich erinnere mich an meine Kindheit, an die Menschen, mit denen ich meine Tage und Nächte verbrachte, an mein Leben und alles, was es dazu machte. Doch dieser eine Moment ist wie fortgewischt. Als wäre ich ein Neugeborenes, das sich nicht an den Moment seiner Geburt erinnern kann. Doch der, der mich zu dem machte, was ich nun bin, hat mir erzählt, warum ich nun bin, was ich bin. Und ich werde dir erzählen, warum ich dich … auserwählt habe. Auserwählen musste«, fügte er leiser an.
Cesare starrte ihn an, noch immer betört von seinem Geruch. Nur langsam sickerte das Gesagte in seine Gedanken und fand dort Halt.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich.
»Ich war einsam und auf der Suche nach einem Gefährten. Doch da ich wusste, dass eine Erweckung Gabe und Fluch gleichermaßen bedeuten würde, durfte es niemand sein, den ich mitten aus der Blüte seines Lebens reißen würde. Es musste jemand sein, der auf dem Grat zwischen Leben und Tod wandelte. Jemand, dem ich ein neues Leben, eine neue Chance schenken würde.«
Cesares Gedanken waren nichts als undurchdringlicher Nebel. Hatte er bereits die himmlischen Fanfaren und die glockenhellen Stimmen der Engel gehört? Womöglich das Knistern und Knacken der Höllenfeuer?
Wieder erschien ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen des Mannes und er strich Cesare mit federleichten Fingerspitzen über die Schulter. »Es ist sinnlos. Bemüh dich nicht, dich zu erinnern.« Er machte eine kurze Pause, wie um sich zu sammeln. »Auf dem Weg in die nächste Stadt kam mir eine Gruppe Söldner entgegen. Sie johlten und prahlten, nun könnten sie sich jede Dirne der Welt leisten. Ich ging meines Weges, folgte weiterhin dem Feldweg am Waldesrand. Ein paar Meter weiter fand ich einen verwaisten Karren. Instinktiv hielt ich inne, trat zwischen die Bäume, ging ein Stück, keine zehn Meter weit. Und dort fand ich dich, verwundet zwischen Farnen und Moosen, mit leeren Taschen und zerrissenem Wams. Jemand hatte dir eine gräßliche Wunde beigebracht, genau hier.« Er legte seine Hand auf eine Stelle knapp oberhalb von Cesares Herzen. »Vielleicht mit einem Schwert oder einem Dolch. Es blutete gräßlich und du warst kaum mehr am Leben. Das Metall hatte deine Lunge durchstochen, doch es hatte dein Herz verfehlt. Ich wusste um diese verlassene Kapelle in der Nähe, weil ich zwei Tage zuvor hier geschlafen hatte. Also brachte ich dich her und raubte dir den letzten Rest deines Lebens. Nur um dir meines einzuflößen.«
Abermals machte er eine Pause, in der Cesare das Gehörte verarbeitete.
»Ich war auf dem Weg nach Hause, vom Markt«, wisperte er schließlich. »Ich hatte alles verkauft und gutes Geld bekommen, die Münzen klimperten in meinem Ledersäckchen … Und ich hörte fremde Stimmen, als ich kurz vor den ersten Häusern meines Dorfes den alten Feldweg entlang ging …« Danach endete seine Erinnerung als wäre sie ein Buch, das nach dem letzten Satz, nach der letzten Seite zugeschlagen wurde.
»Vielleicht war unsere Begegnung Schicksal«, sagte der Fremde. »Das ist es zumindest, was ich glauben möchte. Welche höhere Macht mich auch immer zu dir führte, sie gab mir eine Chance auf einen Gefährten, nach dem ich jahrelang gesucht hatte. Und ich gab dir eine neue Chance auf ein Leben. Ich werde dich gut behandeln. Ich werde dich alles lehren. Es soll dir in deinem neuen Leben an nichts fehlen.«
Der Fremde verstummte und Cesare dachte schweigend nach.
»Es gibt ohnehin kein Zurück, nicht wahr?«
Der Fremde schüttelte knapp den Kopf, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Cesare hob die Hand.
»Was auch immer Ihr aus mir gemacht habt, Ihr seid für mich verantwortlich – egal, ob ich in Eurer Tat Rettung oder Fluch sehe.«
Der Fremde nickte ernst.
»Dann sagt mir wenigstens Euren Namen.«
»Valentino.«
26.01.2020