»Krasse Narbe auf deiner Stirn!«
Jannik zuckte nur die Schultern, trank einen Schluck Bier und wippte weiter mit dem Fuß zum Takt der stampfenden Bässe. Eigentlich war es im Club viel zu laut, um sich zu unterhalten, aber irgendwie brachte sein Gegenüber das Kunststück seit vier Songs fertig. Schon in dem Moment, als sich Jannik mit seinem Getränk an die Bar gelehnt hatte, um den Blick über die volle Tanzfläche schweifen zu lassen, hatte sich der junge Mann mit den schmalen Gesichtszügen und dem silberblonden Pixie-Undercut zu ihm gesellt. Er hatte sich als Milan vorgestellt und flirtete seitdem mit ihm – nicht nur mit Worten, auch mit eindeutigen Tanzbewegungen. Verdammt, dieser Typ sah nicht nur heiß aus, er besaß auch die Geschmeidigkeit einer Katze. Unweigerlich dachte Jannik daran, wie es wohl wäre, wenn sie gemeinsam im Bett …
»Darf ich mal?«, fragte Milan in Janniks Gedanken und deutete mit der freien Hand auf dessen Haaransatz. Als Jannik nur erneut mit den Schultern zuckte, strich Milan vorsichtig das schweißfeuchte Haar zur Seite. Der Blick aus seinen dunklen Augen war intensiv und Jannik fühlte sich, als schmölze er darunter zusammen. Die sanfte, tastende Berührung der fremden Finger auf seiner Haut und in seinem Haar machte es nicht besser, im Gegenteil. Andererseits war es auch wahnsinnig heiß in diesem Club.
»Krass, die ist ja richtig lang. Wo hast du die her? Unfall?«
»War ein Geschenk«, gab Jannik zurück und leerte sein Bier, nur um sich und seinem Gegenüber mit einem Fingerzeig in Richtung Barmann direkt zwei neue Getränke zu ordern.
»Ein Geschenk?«, echote Milan. Diese Reaktion war zu erwarten gewesen.
Jannik überlegte, ob er die einstudierte Gerade-genug-Infos-um-nicht-weiter-zu-fragen-Version zum Besten geben oder die echte Geschichte dahinter erzählen sollte. Das war wirklich nichts, das man einer Clubbekanntschaft erzählte, die man eigentlich nur für ein Happy End mit nach Hause nehmen wollte. Andererseits stand in Milans Augen echtes Interesse. Zumindest glaubte Jannik dies im flackernden Scheinwerferlicht und zwischen all den tanzenden Lichtpunkten der Discokugel zu erkennen.
»In der Oberschule meinten zwei Jungs, Schwulsein wäre wider der Natur und ich sollte das Opferlamm sein, das sie auf dem Altar der Rechtschaffenheit opfern wollten, um ein Exempel zu statuieren.«
Milan klappte den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wie angewurzelt stand er plötzlich da, während hinter ihm die gesamte Tanzfläche unisono YMCA tanzte.
»Bitte was?!«
»Oder einfacher ausgedrückt: Sie fanden mich eklig, haben ein paar Typen zusammengetrommelt und haben mir auf dem Nach-Hause-Weg aufgelauert, um mir eine Abreibung zu verpassen. Einer hatte sogar ein Messer dabei, der hat das mit dem Opferlamm wohl zu wörtlich genommen. Na ja, jedenfalls … als sie mir eine leere Flasche über den Kopf gezogen haben und all das Blut gesehen haben, haben sie Schiss bekommen und sind abgehauen.«
Milan spielte wieder den Fisch.
»Guck nicht so. Du hast gefragt.«
»Ich wusste nicht, dass da so eine ernste Geschichte dahintersteckt. Ich dachte, vielleicht hattest du mal einen coolen Straßenkampf oder hast heroisch deine Schwester verteidigt oder so.«
Jannik grinste. »Ich hab nicht mal ne Schwester. Und der Straßenkampf war eher uncool und einseitig.«
»Und wieso dann das mit dem Geschenk?«
»Ich bin stärker dadurch geworden. Ich habe das überstanden. Habe trotzdem mein Abi gemacht. Habe was aus mir gemacht im Gegensatz zu diesen Idioten. Mir kann niemand mehr was anhaben.«
»Echt stark. Und jetzt hast du dir auch noch den heißesten Typen im ganzen Club geangelt – ach, was sag ich – den heißesten Typen der ganzen Stadt!«, grinste Milan und Jannik stieg darauf ein.
»Hab ich das, ja?« Er schob sich näher an Milan und legte einen Arm um dessen Hüfte.
»Hast du. Jetzt will ich noch viel mehr von dir erfahren.«
Milan lehnte sich an ihn, sodass ihre beiden Körper sich federleicht in der Mitte berührten. Seine Fingerspitzen spielten mit Janniks dunkelbraunen Haaren.
»Zeig mir, wie man so stark wird«, hauchte Milan und seine Lippen verharrten nur Millimeter von Janniks Mund entfernt. »Ich trage meine Narben nicht so offen zur Schau.«
10.02.2020