Alexei konnte all das nicht mehr hören.
»Endlich ist der Winter vorbei!«
»Ich hab keine Lust mehr auf Schnee!«
»Wird ja auch Zeit, dass es endlich wärmer wird.«
»Schau mal, da blühen schon Krokusse und die Osterglocken sind auch schon so weit raus!«
»Endlich wieder Sonne!«
Und dann dieses ganze fröhliche Vorgelgezwitscher. Konnten die nicht alle still sein? Warum musste ausgerechnet jetzt die Welt zu neuem Leben erwachen? Jetzt, wo ihm nur noch nach Sterben zumute war?
Am Ende des Winters – wortwörtlich am letzten Tag vor dem kalendarischen Frühlingsbeginn – hatte Juri ihn sitzenlassen. Ausgerechnet für Mischa, mit dem er ihn vor einem halben Jahr in einer wortwörtlich heißen Sommernacht betrogen hatte. Juri hatte ihm einfach eine Nachricht geschrieben, dass er Schluss machen wollte. Da war er schon eine Woche nicht mehr in ihrem gemeinsamen Zuhause gewesen. Am nächsten Tag hatte er seine Sachen geholt und war aus Alexeis Leben verschwunden, als hätten die letzten zwei Jahre und vier Monate nichts bedeutet.
Das war eine Woche her. Oder waren es schon acht Tage? Neun? Vielleicht länger? Alexei wusste es nicht. Seit die Tür hinter Juri ins Schloss gefallen war, fühlte sich Alexei sterbenselend. Was womöglich daran lag, dass er seitdem kaum aß oder schlief.
Eigentlich wollte er nichts weiter tun, als auf seiner Couch zu sitzen und die Stunden vorbeiziehen zu lassen. Aber dann würde er wohl nach seinem Freund auch seinen Job verlieren. Also schleppte er sich pflichtschuldig jeden Tag zur Arbeit, wo er nichts auf die Reihe bekam und von seinem Chef angeraunzt wurde.
Auf dem Weg hin und zurück stand er eingepfercht zwischen viel zu vielen schnatternden Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Menschen, die sich über den Frühling freuten. Menschen, die Sonnenbrillen aufsetzten und die Wintermäntel gegen Übergangsjacken eintauschten. Menschen, denen es gut ging. Alexei fühlte sich leer und müde und ausgelaugt. Er versuchte, seine Gedanken auf etwas anderes zu fokussieren, wie auf der Arbeit, doch genau wie dort gelang es ihm nicht. Sobald er seine Haltestelle erreichte, drängte er sich hinaus und floh in die Sicherheit seiner Wohnung. Dort konnte er sich einigeln.
An seinem Platz auf der Couch, gehüllt in seine weiche Lieblingsdecke, die noch ein wenig nach Juri roch, starrte er in die Leere. Er hätte einkaufen gehen müssen, hätte aufräumen müssen, hätte Frieda, seine einzige Topfpflanze, gießen müssen. Aber er starrte nur zu den leeren Regalen, die einmal Juris Bücher und DVDs enthalten hatten, zu der leeren Wand, an der ihre gemeinsamen Fotos gehangen hatten, zu den Jalousien vorm Fenster, durch deren Lamellen sich die letzten Sonnenstrahlen kämpften, bevor sie in der Abenddämmerung verblassten. Ihm war nicht nach Frühling. Nach Liebe und Sonne und Neubeginn. In ihm herrschten Winter, Kälte und Trostlosigkeit.
»General Winter«, flüsterte Alexei in die Stille und verzog die Lippen zu einem schmerzverzerrten Lächeln. Das war Juris Spitzname für ihn gewesen, wenn er in ihren allzu oft hitzigen Diskussionen seine Ruhe bewahrt hatte. Aber das war nur eine Fassade gewesen. Juri war flatterhaft und heißblütig. Und irgendjemand musste in ihrer Beziehung schließlich einen kühlen Kopf behalten, oder?
Nun war Alexei kalt. Er fühlte sich wirklich wie General Winter. General Winter, der diesmal nicht die Schlacht gewonnen, sondern haushoch verloren hatte.
Sein Magen knurrte. Er war müde, unendlich müde, doch er wusste, dass er nicht schlafen können würde. Seitdem Juri nicht mehr da war, hatte er keinen Fuß ins Schlafzimmer gesetzt. Er übernachtete auf der Couch. Oder vielmehr wartete er, dass es wieder hell wurde. Sein Leben spielte sich zwischen Wohnzimmer und Bad ab. Sollte er morgen überhaupt zur Arbeit gehen? Es war ja doch sinnlos, er konnte sich nicht konzentrieren, konnte seinen trüben Gedanken, diesem Gefühl des Weggeworfen-Seins nicht entkommen.
Die Türklingel erschreckte ihn so sehr, dass er von der Couch aufsprang. Die Decke glitt zu Boden. Sein Herz hämmerte.
Er erwartete niemanden. Was, wenn Juri zurückgekommen war? Hatte er womöglich etwas vergessen?
Alexei fühlte sich nicht stark genug, ihm gegenüberzutreten.
Er wollte gerade die Decke aufheben und sich wieder darin einwickeln, als es erneut klingelte. Länger. Nachdrücklicher. Als er immer noch nicht reagierte, klingelte es noch einmal.
Juri wäre nicht so ausdauernd. Oder?
Alexei schlich näher zur Tür, hob den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Ja?«
Seine Stimme klang leer und verbraucht. Und leise. Er war nicht sicher, ob er überhaupt verstanden worden war.
»Aljoscha! Na endlich!« Das war Saschas Stimme! »Ich hab mir Sorgen gemacht. Lass mich rein!«
Ganz automatisch betätigte Alexei den Türöffner. Keine zehn Sekunden später stand Sascha vor ihm und umarmte ihn.
»Meine Güte, Aljoscha, ich dachte, du wärst tot. Du hast seit gestern Früh nicht auf meine Nachrichten und Anrufe geantwortet.«
Alexei war überfordert und verpasste den Moment zum Reagieren. Hatte er vergessen sein Handy aufzuladen? Womöglich.
Sascha löste die Umarmung und hielt Alexei auf Armlänge von sich weg.
»Ich hab's von Irina gehört. Und ich hab befürchtet, dass du … na ja … genau so aussiehst, wie du aussiehst.«
»Wie denn?«, fragte Alexei.
»Fertig. Aber keine Sorge. Jetzt bin ich ja da. Ich hab was zu futtern dabei und meinen Netflix-Login.«
Alexei schielte auf die Tasche, die sein Freund in der Hand hielt.
»Und Wechselklamotten«, fügte dieser an und grinste schief. »Ich lass dich jetzt garantiert nicht alleine. Das hab ich schon viel zu lang, wenn ich dich so angucke.«
»Na, danke für das Kompliment«, erwiderte Alexei, der seine Sprache wiedergefunden hatte. Aber er ließ Sascha rein. Und er konnte ein flüchtiges Lächeln nicht verhindern.