Eine Begegnung mit ihm verlief nie spurlos. Das hatte Haruki erkannt. Erkennen müssen.
Deshalb vermied er es, so gut er konnte, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen.
Es war beinahe Ironie des Schicksals, dass er neben der Uni in einem 24-Stunden-Supermarkt im quirligen Higashi-Ikebukuro Itchome arbeitete. In den kleinen Eckladen kamen jeden Tag so viele Menschen, dass es für ein ganzes Leben ausreichte. Und doch fühlte sich Haruki den Kunden gegenüber sicher. Sie waren Fremde. Und er war nur ein Angestellter. Nicht mehr als ein Statist. Kaum wahrnehmbar. »Willkommen«, »Ich habe Sie warten lassen«, »Das macht 532 Yen, bitte«, »Auf Wiedersehen«. Mehr nicht. Tausendmal gehört. Ohne hochzusehen. Niemand wüsste ihn zu beschreiben, wenn sie am Ausgang danach gefragt würden. Und Haruki achtete peinlich genau darauf, beim Kassieren hinter seinem Tresen zu bleiben oder hinter seinen Warenkisten, wenn er gerade die Regale neu bestückte. Und glücklicherweise konnte er während der Arbeit Handschuhe tragen, ohne dass ihn jemand schräg anschaute oder eine seltsame Bemerkung fallen ließ. Er hatte sich sein kleines spurloses Alltagsleben aufgebaut.
Bei seinen Kollegen war es nicht so einfach.
»Haru, kommst du noch mit zum Karaoke?« – »Tut mir leid, ich muss noch lernen.«
»Haru, wir wollen noch Monjayaki essen gehen!« – »Entschuldige, heute nicht.«
»Hast du nach der Arbeit noch etwas vor?« – »Ja, tut mir leid, ich muss nach Hause.«
Bisher hatte er immer abgelehnt. Besonders seine Kollegin Sakaguchi machte dann oft ein betretenes Gesicht. Haruki tat es leid, all die gut gemeinten Einladungen auszuschlagen. Ausschlagen zu müssen. Schließlich wusste sie von nichts. Sie kannte den Grund nicht. Auch Tanaka nicht, der Haruki ebenfalls immer wieder anbot, dass er sich ihnen nach ihrer Schicht anschließen könnte.
Doch Haruki durfte kein Risiko eingehen. Er hatte gesehen, hatte am eigenen Leib erfahren, wohin es führte, wenn man ihm zu nahe kam. Ob absichtlich oder zufällig, gewollt oder ungewollt … eine unbedachte Berührung reichte und sein Gegenüber würde Spuren davontragen. Tiefschwarze Spuren. Blutspuren. Fluchspuren.
Er musste seine Distanz wahren. Nicht berühren. Nicht berührt werden.
So musste es sein.
Aber Haruki war nicht einsam. Haruki war nicht traurig – nicht für sich, höchstens für seine netten Kollegen, die ihn so freundlich aufzunehmen versuchten.
Doch so, wie es war, war es gut.
So, wie es war, konnte er spurlos durchs Leben gehen.
Sobald die Schicht vorbei war, zog er sich im Personalraum um, packte die benutzte Uniform in seine Tasche und verabschiedete sich von seinen Kollegen, bevor diese noch einmal nach den Feierabendaktivitäten fragen konnten.
Die Schiebetüren glitten vor Haruki zurück und in der Luft des frühen Märzabends lag noch der zarte Duft der Pflaumenblüten, nicht mehr als eine Ahnung unter dem Geruch der Großstadt. Bald würde er vom süßen, schweren Duft der Kirschblüten abgelöst werden. Die Sonne war vor Stunden untergegangen und Haruki fröstelte in seiner dünnen Jacke. Er wandte sich nach links und folgte der Hauptstraße in Richtung Bahnhof. Schon seit er die ersten kleinen Knospen an den Kirschbäumen in der Nebenstraße entdeckt hatte, mied er seinen üblichen Weg und nahm stattdessen den Umweg über die Hauptstraße in Kauf. Es würde noch fast einen Monat dauern, bis der Frühlingswind die letzten weißen und rosafarbenen Blütenblätter weggeweht haben würde. So lange musste er mit den breiten Straßen, den vielen Menschen und den leuchtend-bunten Reklametafeln Vorlieb nehmen.
Kurz vor dem Bahnhof bog er ab, drängte sich durch eine Menschentraube, immer darauf bedacht, den anderen nicht zu nahe zu kommen, und folgte schließlich dem schmalen Pfad zur Unterführung. Er unterquerte die zahlreichen Bahngleise und bog auf der anderen Seite in eine kleine Querstraße ein. Wenig später schloss er seine Wohnungstür auf, öffnete sie einen Spalt und schlüpfte hindurch.
In der Einsamkeit seiner kleinen Wohnung spürte er die Anspannung von sich abfallen. Wieder ein Tag geschafft. Nichts passiert. Alles war gut.
Er streifte die Schuhe ab, stellte sie ordentlich in den Eingangsbereich, die Schuhspitzen in Richtung Tür, und lief strumpfsockig in sein Zimmer. Seine Tasche stellte er sorgsam neben dem Sofa ab. Hunger hatte er noch keinen, also holte er von seinem Sideboard den Zeichenblock und einen Kohlestift und platzierte beides auf dem niedrigen Tischchen, das zwischen seinem Sofa und seinem Futon stand. Mit einer Flasche Grüntee aus seinem Kühlschrank war das Arrangement perfekt und Haruki blätterte in seinem Block, um die vorherigen Studien durchzusehen. Hände, Blüten, Berglandschaften, Augen, Oberkörpermuskeln, Wolkenkratzer, abstrakte Formen, eine Schnecke, knorrige Bäume … Während er blätterte, überlegte er, wonach ihm der Sinn stand. Sein Blick blieb an einer kleinen Pflaumenblüte hängen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie gezeichnet hatte. Trotz der schwungvollen Strichführung wirkte sie nicht so zart, nicht so filigran, wie Haruki sie in Erinnerung hatte. Er blätterte um, bis er eine freie Seite fand, dann setzte er den Kohlestift an. Zeichnete Blüte um Blüte, mit vorsichtigen, federleichten Strichen, mit schwungvollen, scheinbar spontanen Bewegungen, dann wieder langsam und so detailgenau er konnte. Er zeichnete, bis das ganze Blatt überquoll von Pflaumenblüten in allen Größen und Formen. Dann blätterte er erneut zu einer unberührten Seite um, deutete grob die Form eines Astes an und begann, dem Blütenmeer eine Struktur, eine Richtung, ein Leben einzuhauchen. Zwischen ihnen reckten sich Zweige, knorrig wie dürre Finger und zum Licht gereckt, als versuchten sie, es mit ihren Dolden zu erhaschen. Mehr und mehr hauchfeine Kronblätter und unzählige winzige Staubblätter bannte Haruki aufs Papier, bis er meinte, den Frühlingswind in den Blütenständen rauschen zu hören.
Das waren sie, die Spuren. Die einzigen, die Haruki hinterlassen wollte. Zeichnungen. Bilder. Gemälde. Momente, eingefangen auf Leinwand und Papier. Orte, Menschen und Natur. Gefühle, Augenblicke und Erinnerungen. All das, was seinen Geist berührte und seine Gedanken beflügelte.
Irgendwann wollte er sie zeigen, diese Spuren, diese Werke, die seine sonst so gut versteckten Hände zu erschaffen vermochten.
Vielleicht sollte er das Bild in Öl malen. Haruki sah bereits die Töne, die Nuancen, die Pinselstriche vor sich, roch im Geiste die Farben und fühlte fast das feine Leinen unter seinen Fingerspitzen, das glatte Holz des Pinsels in seiner Hand …
Er wollte Spuren hinterlassen. Auf der Leinwand, auf Papier. Auf den Herzen der Menschen. Auf den Menschen. Bunte. Zarte. Warme. Echte Spuren.
Doch was immer diese Hände auch erschaffen mochten in der Einsamkeit seines Refugiums, es bedeutete nichts gegenüber dem, was sie zerstören konnten. Keine Wärme, kein Gefühl konnte den Fluch aufwiegen, dessen schwarzer Teer bei der kleinsten Berührung auf die anderen Menschen tropfte.
Ihm blieb nur zu träumen. Zu malen. Nur die Spuren auf Papier.
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Haruki ist ein Charakter aus meinem Projekt »Minocchis Frühling«. Schaut doch mal rein: https://belletristica.com/de/books/20347-minocchis-fruhling