»Landis, König von Therasien!«
Die Stimme des Ausrufers brach sich vielfach verstärkt an den gut acht Meter hohen Wänden des Thronsaals, schwang sich mühelos hinweg über das Murmeln der Menge, die sich hier versammelt hatte.
Flankiert von zwei Dienern, schritt Landis mit demütig gesenktem Haupt über den samtenen roten Läufer, immer weiter den Gang entlang, der direkt zum Zentrum des Saals führte. Auf einem mehrstufigen Podest stand der Thron dieses Königreichs – reich verziert, ein Sinnbild für Verschwendung und Übermaß. Und darauf, über die Köpfe aller anwesenden Diener, Grafen und Könige erhoben, saß Gengis, der Sieger, in einem purpurnen Umhang und seiner besten Uniform. Landis sah verstohlen zu ihm hinauf, als er sich diesem Herrscher aller Herrscher langsam näherte. Lag nicht Spott in seinem Blick? Hochmut? Gelangweilt sah er aus, wie er da zurückgelehnt saß und auf die Könige hinabsah, die am Fuße des Podests knieten. Sie hatten die Köpfe gesenkt und waren umgeben von den reichen Gaben, die sie ihrem neuen Herrscher zum Geschenk gemacht hatten, als Anerkennung seines Sieges in diesem viel zu lang währenden Krieg. Glitzerndes Gold, Geschmeide, aber auch Wein, kostbare Rohstoffe und sogar zwei stattliche Rappen fanden sich zu Gengis Füßen.
Als Landis am Ende des Weges angelangte, sank auch er auf die Knie und streckte das Geschenk in seinen Händen Gengis entgegen.
»Mein König«, begann er die einstudierte Rede, den Kopf tief gesenkt, »ich erkenne Euren Sieg über Therasien an und beuge mich Eurer Macht als Euer bescheidener Diener. Ich bringe euch die süßesten Früchte meines Landes: Die Anaar-Beeren. Nehmt dieses Geschenk als Zeichen meiner Niederlage und Anerkennung.«
Von oben vernahm Landis ein kurzes Auflachen.
»Früchte bringst du mir?«, fragte Gengis. »Seid ihr so arm, dass ihr nichts Wertvolleres habt als ein paar Körbe Obst?«
Er lachte und ein paar Mitglieder seines Hofstaates stimmten mit ein.
»Die Anaar-Beeren sind das Wertvollste, das wir besitzen. Aus ihnen lassen sich vielfältige Dinge herstellen. Ich bitte Euch, nehmt mein bescheidenes Geschenk an, Herrscher aller Herrscher«, erwiderte Landis mit fester Stimme und noch immer gesenktem Haupt.
Gengis gluckste noch einmal. »Nun ja, ich will mal nicht so sein. Nicht alle Länder, die ich unterworfen habe, sind reich und herrlich wie mein eigenes Königreich. Ich nehme dein Geschenk an, auch wenn ich mir mehr versprochen hatte von Therasien.«
Landis stellte wortlos den Korb vor sich ab und gab seinen beiden Dienern einen Wink, es ihm gleichzutun. Gemeinsam rückten sie zur Seite, sanken in die gleiche Pose wie die anderen Könige und verharrten wortlos, bis die Zeremonie vorüber war.
Landis hatte diese Reaktion erwartet. Verglichen mit den Geschenken der anderen acht Herrscher war seines regelrecht lächerlich. Aber es erfüllte seinen Zweck. Es gab kaum eine bessere Ausgangslage, als vom Feind unterschätzt zu werden.
Unter den Demutsgesten der Könige war es Abend geworden. In seiner Großzügigkeit lud Gengis die Unterworfenen und ihr Gefolge zum Gelage im Festsaal, bei dem vom besten Wein geschenkt und die erlesensten Speisen aufgetafelt wurden. Gengis prunkte und protzte und wurde nicht müde, zu betonen, welch strahlende Zukunft ihren Reichen unter seiner Herrschaft bevorstünde. Landis ließ den Blick zu den anderen schweifen. Sie alle hatten – genau wie sein Volk – schwere Verluste hinnehmen müssen, so viel unschuldiges Blut war geflossen, so viele Menschen waren sinnlos gestorben. Gebrochen sahen die anderen Herrscher aus, sie mochten froh sein, dass dieser Krieg nun endlich vorüber war und sie zahlten letztendlich den Preis, der von ihnen verlangt wurde. Landis wusste, dass viele von ihnen schwache Könige waren, kaum kriegserprobt, keine Strategen, angewiesen auf ihre Berater und ihre Generäle, von denen niemand mehr übrig war.
Landis konnte es ihnen nicht verübeln, wenn sie sich fügten, wenn sie diese Schmach und Schande ertrugen zum Wohle ihres Volkes. Sie alle wünschten sich Frieden. Auch er, Landis, tat dies. Er wollte Frieden. Doch der Preis war zu hoch.
»Landis, mein Lieber«, donnerte Gengis und legte ihm einen Arm um die Schultern, als wären sie alte Freunde und hätten sich nicht vor anderthalb Monaten als Erzfeinde gegenüber gestanden und den Befehl zum Angriff gegeben. »Willst du uns nicht einen leckeren Obstkuchen backen als Dessert? Wenn du uns schon Früchte anschleppst?«
Landis roch den süßen Wein, der aus Gengis sprach, sah die Gewissheit des Sieges und die Gier nach weiterer Demütigung in seinen Augen blitzen. Zwei der Männer, die direkt in Hörweite saßen, johlten.
»Verzeiht, Herr, ich verstehe mich nicht auf Küchendienste, so gern ich Euren Wunsch auch erfüllen würde«, gab Landis bedauernd zurück und widerstand dem Drang, die Pranke des anderen von seiner Schulter zu wischen.
»Was soll ich dann mit all den Beeren? Wolltest mir wohl einen Korb voller Beeren aufbinden?« Gengis lachte dröhnend über seinen eigenen Witz und ein paar Männer stimmten mit ein.
»Gewiss nicht. Ihr werdet sehen, die Anaar-Beeren sind etwas Besonderes, das Ihr in keinem der anderen Reiche finden werdet. Aber wenn Ihr erlaubt … nicht nur ein Kuchen lässt sich aus den Beeren herstellen. In Therasien verstehen wir uns auch darauf, den köstlichsten, süßesten Wein aus ihnen zu gewinnen. Zufällig habe ich noch zwei Flaschen davon in meinem Reisegepäck. Sicher könnte dieser edle Tropfen Euch milder stimmen und Eure geschätzte Meinung ändern über unser Geschenk.«
»Und das sagst du erst jetzt? Und du wagst es, diesen Wein nicht auch herzuschenken an mich, deinen neuen König? Hol ihn her, den Wein!«, verlangte Gengis, zog Landis unsanft in die Höhe und gab ihm einen Schubs in Richtung des großen Eingangstores.
Landis fing sich und deutete eine Verneigung an.
»Aber gewiss. Wie töricht von mir. Entschuldigt mich für einen Augenblick.« Damit verschwand er in Richtung des Zimmers, in dem man ihn und seine beiden Diener untergebracht hatte.
»Nun denn, mein König, hier ist er.« Landis hielt die beiden Weinflaschen wie zwei Trophäen in die Höhe, als er in den Festsaal zurückkehrte. Die Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. Gengis, der inmitten seiner Hofleute saß und schnatterte, hob den Kopf, schüttete den Wein in seinem silbernen Pokal achtlos auf den Boden und verlangte, Landis solle sofort einschenken.
Landis verbeugte sich erneut demütig vor Gengis und entkorkte eine der Flaschen. Vorsichtig goss er die tiefpurpurne Flüssigkeit, die schwer und samtig war, in Gengis Pokal, bis dieser fast bis zum Rand gefüllt war.
»Auf euer Wohl, mein König!«, prostete Landis ihm zu und Gengis setzte den Pokal an seine Lippen.
»Süß und klebrig ist er, mehr nicht!«, gab der Herrscher zurück und warf den Pokal von sich. »Nichts Besonderes und nicht einmal besonders gut!«
Auf Landis Lippen legte sich ein Lächeln und er blickte Gengis fest in die Augen. »Mit Verlaub, mein König, dieser Wein ist ein ganz Besonderer.«
Gengis starrte ihn erbost an, doch bevor er etwas erwidern konnte, verlor sein Gesicht alle Farbe und er griff sich hilflos an die Kehle.
»Anaar-Beeren sind das Giftigste, das es in unserem Reich gibt.«
Gengis glitt röchelnd von seinem Stuhl, im Saal brach ein Tumult los. Jemand packte Landis, doch seine Diener schnellten ihm zur Seite und brachten den Angreifer zu Fall. Gleichzeitig stürmten bewaffnete therasische Soldaten den Saal.
Landis kämpfte sich vor und sprang auf den Tisch.
»Lang lebe der König!«, brüllte er, ließ sich von einem seiner Soldaten ein Schwert zuwerfen und stürzte sich ins Kampfgetümmel.