Die Kirschbäume im Ueno-Park standen in voller Blüte. Unter den üppigen Blütendächern, die sich wie ein rosafarbenes Wolkenband zu beiden Seiten der Allee erstreckten, waren unzählige blaue Decken ausgebreitet. Die Menschen saßen in Gruppen im Schatten der Bäume, hatten sich Bier, Wein und Bentoboxen mitgebracht. Man schmauste, trank und lachte. Hin und wieder schwebten die Töne eines fröhlichen Liedes durch die Luft, wenn eine angeheiterte Dame aufsprang und ein Kirschblütenlied zum Besten gab. Der ganze Park war angefüllt mit dem aufgeregten Stimmengewirr der Besucher.
Am Rand hatten Imbissstände Position bezogen und versorgten die Neuankömmlinge mit frittierten Oktopusbällchen, gegrillten Süßkartoffeln, gedämpften Teigtaschen mit Fleisch, Maiskolben und Tintenfisch am Spieß. Andere boten Crêpes, verschieden gefüllte Teigwaffeln, Zuckerwatte und Schokobananen an. Unter den süßen Duft der Kirschblüten mischten sich so auch die mannigfaltigsten Gerüche aus Garküchen, Grillhäuschen, Backstuben und Fritteusen. Eine olfaktorische Kakophonie, die sich doch in ihrer Gesamtheit mit einer nostalgischen Note tief ins Gedächtnis der Familien und Freunde, die unter den Kirschbäumen saßen, eingegraben hatte.
Die Kirschblüte im Ueno-Park war schon immer auch ein großes Volksfest gewesen. Von nah und fern zog es seit Jahren Besucher an – aus Ueno, aber auch aus anderen Stadtteilen Tokyos, aus den umliegenden Präfekturen, ja, sogar aus der ganzen Welt. Niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen.
Somei lag, unsichtbar für normale Menschen, auf einem knorrigen Ast seines Kirschbaumes und schaute dem Treiben zu. Sein langes, farbloses Haar und die Ärmel seines weißen Seidenkimonos wiegten sich in einer leichten Brise, die die Zuckerwatte-Baumkronen leise rauschen ließ. Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete er die fünf Freunde, die sich soeben unter ihm auf der obligatorischen blauen Decke niedergelassen hatten. Aus ihren Rucksäcken und Taschen packten sie eine halbe Wagenladung an Snacks, Bier und auch die eine oder andere Flasche Reiswein. Mit erwachendem Interesse stellte er fest, dass sich auch eine Flasche Junmai Ginjo Sake darunter befand. »Black Label« von Masumi aus Nagano – nicht schlecht. Somei bezweifelte, dass die Gruppe den Wein gekühlt transportiert hatte, aber er würde sich nicht beschweren. Solche edlen Tropfen bekam er nicht häufig.
Zu seiner Freude öffnete der junge Mann, der die Flasche ausgepackt hatte, sie vorsichtig, sobald sich alle auf ihrem Platz eingerichtet hatten. Ein anderer förderte ein paar Keramik-Sakebecher zutage und im Nu war die erste Runde eingeschenkt.
Somei spähte hinunter und zählte die Becher. Als alle sich zuprosteten, lehnte er sich schon enttäuscht zurück.
»Halt, Moment!«, rief der, der den Black Label mitgebracht hatte. Die anderen hielten inne und auch Somei lehnte sich wieder ein wenig nach vorn. »Den ersten Schluck sollten wir opfern!«
»Opfern? An wen denn? Und überhaupt, das ist ein Junmai Ginjo, davon sollten wir keinen Tropfen verschwenden«, wandte einer der anderen ein.
»Aber das ist eine alte Tradition. Zu Ehren der Geister, die diese Kirschbäume bewohnen und sich um sie kümmern. Ohne sie könnten wir diese herrliche Blütenpracht nicht bewundern.«
»Glaubst du etwa an diese alten Märchen?«
»Ach, meine Großmutter hatte mir auch mal davon erzählt. Dass in jedem Kirschbaum ein Geist oder ein Wächter wohnt. Und dass man ihm den ersten Schluck beim Hanami opfern sollte, damit er bei Laune bleibt.«
»Genau!«
»Na, wenn ihr meint. Was machen wir jetzt also?«
Der, der den Black Label mitgebracht hatte, stand auf, ging zum Stamm von Someis Kirschbaum hinüber, hielt den Sakebecher in der ausgestreckten Hand vor sich und verbeugte sich.
»Oh, Geist in diesem Kirschbaum, wir danken dir für diese herrliche Blütenpracht und hoffen, dass du uns auch im nächsten Jahr wieder solch wunderschöne Kirschblüten schenken wirst. Bitte nimm unser Opfer an.«
Dann leerte er langsam den Becher am Fußende des Stammes.
Somei schmunzelte und spürte, wie die Wurzeln seines Baumes den versickernden Wein aufsogen. Trocken und doch süß. Wie Zuckerwatte. Mit einer feinen apfeligen Note. Und Bittermandeln. Somei schloss die Augen und kostete den Moment voll aus, während unter ihm die Gruppe noch einmal »Kanpai!« rief und nun alle zum ersten Mal vom Reiswein tranken. Dann verfielen sie in angeregtes Geschnatter.
Mit einem wohligen Gefühl im Bauch streckte sich Somei auf seinem Ast aus und schickte mit der nächsten Windböe ein paar Kirschblütenblätter zu der Gruppe hinunter, ließ die Blütenblätter im Wind tanzen und schließlich auf die blaue Decke segeln. Nach solch einem leckeren Opfer würde er im nächsten Jahr die Blüten noch üppiger, ihre Farbe noch intensiver machen. Wenn sich schon jemand der alten Tradition erinnerte, wollte er ihn auch belohnen.