Sie konnte die Blicke der Vorbeigehenden praktisch spüren. Viele von ihnen – es war gedrängt hier – versuchten ihre Blicke zu verbergen, und dennoch waren sie da. Pakhet war selbst für eine Amerikanerin relativ groß, war größer als viele der Menschen hier. Und ihre rot gefärbten Haare stachen heraus. Vielleicht hätte sie eine neue Perücke kaufen sollen.
Und dann war da natürlich die Prothese, die dem ein oder anderen auffiel.
Wie sie diese Blicke hasste.
Die eigene Aufmerksamkeit direkt nach vorne gerichtet, ging sie zum Starbucks. Sie hielt von der Kette nicht viel, doch wenigstens wusste man praktisch, egal wo auf der Welt man war, was man bekam. Nun, nicht ganz egal. In Südafrika gab es die Coffeeshops noch immer nicht. Wahrscheinlich hatte irgendjemand in irgendeinem Hauptquartier beschlossen, dass es das Risiko nicht wert war, mit den vielen etablierten, lokalen Ketten zu konkurrieren – und von denen gab es einige.
Trotz ihrer Abneigung bestellte sie einen Kaffee. Den konnte sie ohnehin gebrauchen. Mit diesem in einen Pappbecher ging sie in den Sitzbereich des Ladens, sah sich um. Michael hatte ihr eine Beschreibung geschickt, ein Erkennungszeichen. Ein Buch. Doch drängten sich hier so viele Leute, diverse von ihnen Studierende mit Büchern, bis sie den älteren Mann sah, der mit einem Paperback in einer Ecke, weit weg vom Fenster saß.
Er war sicher um die fünfzig, wenn nicht älter. Pakhet fiel es schwer, ihn einzuschätzen. Doch sein gebräuntes Gesicht war von Furchen durchzogen, die für einige Sorgen sprachen. Graue Strähnen zogen sich durch das schwarze Haar. Ansonsten aber sah er unauffällig aus. Er trug einen normalen Anzug, wie viele andere auch, hatte die Krawatte etwas gelockert und schien gänzlich in das Buch – eine annotierte Shakespeare Sammlung – vertieft.
Es konnte noch immer eine Falle sagen, warnte die kleine, panische Stimme sie. Pakhet aber schluckte, schloss die Augen und trat zu ihm hinüber. „Ist dieser Platz besetzt?“, fragte sie und nickte zu dem Stuhl ihm gegenüber.
„Nicht, dass ich es bemerkt hätte“, erwiderte er – wie abgesprochen.
„Darf ich mich setzen?“
„Mich wird es nicht stören.“ Sein Englisch hatte keinen so starken Akzent, wie Weiwens oder Lis. Ja, er klang beinahe, wie ein Brite, nur mit einer anderen Spur. Kam er von Hongkong?
Ganz sicher war sie sich nicht. „Mir wurde gesagt, Sie hätten ein Geschenk für mich“, meinte sie mit gesenkter Stimme und nippte an ihrem Kaffee, auch wenn es hielt, dass ihre Hand nicht bereit war, jederzeit nach ihrer Waffe zu greifen.
Auch hier drin warfen ihr einige Leute Blicke zu.
„Ja“, erwiderte er und seufzte. Er musterte sie. „Es tut mir leid, dass Sie wegen mir in Probleme geraten sind.“
Überrascht sah Pakhet ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie runzelte die Stirn. Was sollte das heißen? Auftraggebern war es üblicherweise egal, was mit einem etwaigen Söldner oder in ihrem Fall einer Söldnerin geschah. Am Ende war nur die Erfüllung des Auftrags wichtig, das Erreichen eines Endziels.
Unsicher, was sie erwidern sollte, nippte sie am Pappbecher.
Stille herrschte, während auch der Mann unsicher schien, was er sagen sollte.
Schließlich atmete Pakhet durch. „Sie sind Bei Zhao?“
Der Mann nickte. Er räusperte sich. „Sie wollen wirklich noch einmal …“ Er hielt inne. Dieses Mal hatte er – wenngleich mit deutlich dickerem Dialekt, als sein Englisch – auf Niederländisch gesprochen.
Pakhet runzelte die Stirn. „Sie sprechen Niederländisch?“
„Ich habe eine Weile in Europa gearbeitet“, sagte Zhao unsicher. Jetzt legte er sein Buch ganz zur Seite. Seine Finger waren zittrig. Nun, da sie darauf achtete, trug er keine Tattoos. Jedenfalls nicht sichtbar. Vielleicht waren sie versteckt.
Tatsächlich aber erweckte er nicht den Eindruck eines Kriminellen. Was umso mehr eine Frage aufbrachte. Doch Pakhet fragte nicht, denn sie war professionell.
„Hören Sie, wenn es nicht möglich ist, dann …“, begann er und unterbrach sich wieder selbst. „Es wäre traurig, würde eine junge Frau wie Sie sterben, für die Rache eines alten Mannes.“
Wieder wusste Pakhet nicht, was sie erwidern sollte. Sie musterte ihn genauer. Er sah müde aus. Wie jemand, der zu viel arbeitete und zu wenig schlief. „Ich habe einen Job. Ich werde ihn ausführen“, erwiderte sie. Ihr fiel es leichter ins Niederländische zu verfallen, auch wenn sie sich dessen bewusst war, dass ihr eigener Südafrikanischer Akzent dick war. „Haben Sie, weswegen ich Sie treffen wollte?“
Zhao atmete leise aus. Er schien sich ein Seufzen zu verkneifen. „Ja.“ Er nahm seine Aktentasche, stellte sie auf den Tisch und zog einen Block daraus hervor. Da war etwas unter dem Block. Wohl, weswegen sie hier war. Er war offenbar bemüht, subtil zu sein. Das konnte sie respektieren. Doch die Art, wie er handelte, sprach deutlich dafür, dass er keine Erfahrung hatte.
Aber warum …
Hier war eine private Geschichte dahinter. Es ging nicht um Karriere. Er hatte von Rache gesprochen. Er hatte darauf bestanden, dass Li mit der Droge umgebracht würde. Was war die Geschichte dahinter?
Langsam fügten sich Puzzelstücke zusammen. Jemand war an einer Überdosis gestorben. Zhao gab Li die Schuld. Deswegen die Rache. Gleiches für Gleiches. Nun, nicht ganz.
Wer war es gewesen? Zhaos Frau? Sohn oder Tochter? Vielleicht ein Bruder? Sie musterte ihn.
„Warum die genaue Anweisung?“, fragte sie, nun doch unfähig sich zu beherrschen. Er war nicht professionell. Er hatte hiermit keine Erfahrung. Er würde es kaum gegen sie halten. Michael musste davon nichts erfahren. Ach, Michael sah sie ohnehin schon als unprofessionell, allein, weil sie aus persönlichen Gründen blieb.
Und weil sie versagt hatte …
Zhao schürzte die Lippen. Seine Hände waren deutlich angespannter und sein Blick verharrte auf dem Block. Ein einfacherer karierter Notizblock. „Sagen wir es so … Ich war ein schlechter Vater. Ich war nicht genug zuhause. Und für junge Männer …“
„Ihr Sohn ist drogenabhängig geworden?“, schloss Pakhet, als Zhao mitten im Satz verstummte.
„Mein Sohn hatte Probleme in der Uni. Ist mit Leuten aneinander geraten. Er muss irgendwann mit den Drogen angefangen haben. Wahrscheinlich hatte er Schulden.“ Zhao schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Ich war ein schlechter Vater. Ich weiß nicht einmal genaues. Alles was ich weiß, war, dass Jie drei Tage tot war, als ihn jemand fand.“
Nun war es Pakhet, die ihren Kaffeebecher fixierte. Warum hatte sie auch gefragt? Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Das tut mir leid.“
Sie fragte sich, woher Zhao überhaupt wusste, dass es Li war. Immerhin schien Li weiter oben angesiedelt zu sein, um mit einem einzelnen Drogenabhängigen zu tun zu haben. Jetzt aber beherrschte sie sich. Sie griff nach dem Kaffee, trank wieder einen Schluck.
„Ich hätte nicht so spezifisch sein sollen“, meinte Zhao nun. „Letzten Endes …“ Er schüttelte müde den Kopf. „Ich will, dass dieser Mann stirbt.“
Pakhet schloss die Augen, sah wieder Lis Gesicht vor sich. „Da sind wir zwei“, erwiderte sie und griff nach dem Etwas unter dem Block. Es war ein kleines, weißes Papiertütchen, dass sie in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden ließ, ohne diese ganz zu öffnen.
„Es tut mir wirklich leid, dass Sie …“ Er musterte sie. „Auch wenn Sie Glück gehabt zu haben scheinen.“
Ganz konnte sie sich einen verächtlichen Laut nicht verkneifen. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie glimpflich davon gekommen war, da man ihr keine Verwundungen ansah. „Ja“, murmelte sie. „Gerade so …„